Wo die Liebe beginnt
der Berliner Mauer sein, die am Anfang hier und da nur ein paar Löcher hatte, bis die Vorschlaghämmer kamen und der Tanz begann? Ich kann mir meine Mutter allerdings beim besten Willen nicht dabei vorstellen, wie sie ein offenes Gespräch über Kirby anfängt â warum eigentlich? Um die Wahrheit zu verbergen oder die Tatsache, dass wir gelogen haben? Und kann man die beiden Dinge nach so langer Zeit überhaupt noch voneinander trennen?
»Wie gehtâs Janie?«, frage ich, obwohl ich genau weiÃ, dass uns jetzt ein zwanzigminütiger Vortrag über Janies Leben in Cincinnati bevorsteht. Dabei weià ich doch schon alles aus Janies Weihnachtsrundbrief, der auch ein Foto von ihrer Familie â alle in weiÃen Sommerkleidern am Lake Michigan posierend â enthielt. Die Briefe sind jedes Jahr gleich. Immer geht es um die Hobbys und Heldentaten ihrer drei Söhne (»Pfadfinder! Schachklub!! Brandons erster Home Run!!!«), Janies wohltätige Aktivitäten (»Fünfhundert Osterkörbchen für benachteiligte Kinder â ein Rekord!«) und die beruflichen und sportlichen Leistungen ihres Mannes Keith (»Ich weià nicht, wie er das alles schafft!«). Aber ich höre Mrs. Wattenberg trotzdem zu. Ihr Monolog endet mit einem Lob auf den Mittleren Westen und seine althergebrachten Werte: die Familie und die ruhige Lebensart.
»Und wie geht es dir so in der groÃen Stadt?«, fragt sie dann.
Bevor ich antworten kann, schüttelt sie den Kopf und erklärt, wie stolz sie auf mich ist und wie gut ihr meine Serie gefällt. Und sogar ihr Mann, der normalerweise keine Serien guckt, schaut sie sich an, und sie haben all ihren Freunden gesagt, dass sie die Sendung wenigstens aufnehmen sollen, weil das gut für die Einschaltquoten ist. Sie tun, was sie können!
Ich danke ihr, und sie atmet erschöpft durch. »Wann habt ihr euch eigentlich das letzte Mal gesehen, du und Janie?«
»Das ist leider schon ein Weilchen her«, sage ich und überschlage, dass es etwa zum zehnjährigen Abschlussjubiläum gewesen sein muss. Da habe ich Janie gesagt, dass ich der Arbeit wegen nicht kommen kann. In Wirklichkeit wollte ich aber wegen Conrad nicht erscheinen. Ich wusste, dass er nicht aufkreuzen würde, aber ich wollte weder seinen Namen hören noch irgendjemanden treffen, der ihn kannte. Ich wollte überhaupt nicht mehr an ihn denken.
»Aber ihr habt euch doch nicht gestritten, oder?«, fragt Mrs. Wattenberg.
»Nein, nein. Wir ⦠haben uns einfach ein bisschen auseinandergelebt. Das kommt ja vor.«
»Tja, ihr habt euch wirklich in verschiedene Richtungen entwickelt, das ist wahr«, sagt sie und wirft einen Blick auf meine linke Hand, und da bemerke ich, dass ich noch immer das Lenkrad umklammere.
»Und, läuten bei dir bald die Hochzeitsglocken?«, will sie wissen. »Deine Mutter schwärmt ja in höchsten Tönen von deinem Lebenspartner. Sie hat mir mal ein Foto von ihm gezeigt. Er sieht ja aus wie der junge Richard Gere, hach, der war schon immer mein Lieblingsschauspieler! Seit Pretty Woman . Wer hätte gedacht, dass man einen Mann bewundern kann, der zu einem StraÃenmädchen geht?«
Ich lächele. »Ja, das ist wirklich ein Ding!«
»Und?«
Ich schüttele den Kopf und halte meine ringlose linke Hand hoch. »Noch nichts in Sicht!«, zwitschere ich.
»Nur Geduld! Irgendwann klappt es. Und dann kommen auch die Babys. Du hast noch Zeit. Und wer weiÃ, vielleicht bekommst du ja Zwillinge! Hast du gewusst, dass die Wahrscheinlichkeit, Zwillinge zu kriegen, mit dem Alter zunimmt? Vielleicht kriegst du sogar Drillinge! Dann kannst du in einem Schwung mit Janie gleichziehen.«
Kurz denke ich darüber nach, ihr zu sagen, dass Fortpflanzung kein Wettbewerb ist, genauso wenig wie der Zulassungstest fürs College, die Aufnahme ins Cheerleaderteam, die Frage, ob man es auf ein gutes College schafft, und all die anderen Dinge, aus denen Mrs. Wattenberg einen Wettkampf gemacht hat, als Janie und ich noch jünger waren. Meine Mutter erzählt, sie hätte sogar darauf geachtet, welche von uns als Erste Zähne bekommt. Ich habe nie verstanden, wieso Mrs. Wattenberg so versessen darauf war, den Punktestand zwischen uns zu verfolgen. Janie hatte in dieser Hinsicht jedenfalls keinerlei Ehrgeiz â vielleicht eine Reaktion auf das Verhalten ihrer Mutter.
Im Rückblick begreife ich aber,
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