Wo die Liebe beginnt
mir von seiner Leidenschaft für Gitarren und dass er Stücke schrieb. Wir verglichen unsere Lieblingsfilme und Lieblingsbücher. Wir redeten sogar über Gott und Religion und Politik. Dann schilderte er mir den tödlichen Unfall seiner Mutter. Er und sein Vater hatten auch im Auto gesessen, aber Conrad hatte den Platz mit seiner Mutter getauscht, weil ihm hinten auf dem Rücksitz schlecht geworden war. Er glaubte immer noch, dass sein Vater deswegen wütend auf ihn war â und dass er lieber seinen Sohn als seine Frau verloren hätte.
»Red doch nicht so«, sagte ich.
»Wieso? Das ist die Wahrheit.«
»Unmöglich.«
»Ist es nicht«, widersprach er. »Sie haben sich abgöttisch geliebt. Er hätte sie immer vorgezogen.«
»Aber doch nicht seinem eigenen Kind.«
Conrad nickte. »Doch. Ich glaube, das hätte er. Aber das ist okay. Mir gefällt das sogar. So soll es sein, wenn man sich liebt, finde ich.«
Ich nahm seine Hand und dachte, es gibt doch nichts Wunderbareres als wahre Liebe. Eines Tages würde ich sie vielleicht finden. Wäre sie auch nur annähernd so befriedigend wie dieser Moment?
In dieser Nacht schliefen wir beide unruhig, wachten oft auf und nickten wieder ein. Mein Kopf lag auf seiner Brust, mein Ohr direkt über seinem klopfenden Herzen. Als es dämmerte, weckte er mich. Er reichte mir meine Kleider und drehte sich taktvoll um. Dann zog er das Bett ab, wie er es versprochen hatte, nahm das schmutzige Handtuch an sich und ging mit dem ganzen Haufen Wäsche nach unten. Als ich ihm folgte, bemerkte ich, dass es deutlich kühler geworden war. Endlich hatte die Hitze etwas nachgelassen, zumindest aber wehte ein leichtes Lüftchen. Die Vorhänge an den Küchenfenstern bewegten sich sanft im Luftzug. Janie stand in der Küche und blickte in den Garten, in dem leere Getränkedosen, Flaschen und Zigarettenstummel verstreut herumlagen. Dann schaute sie uns an, ein fragendes Lächeln auf den Lippen.
»Schönen guten Morgen«, sagte sie und entdeckte die Laken.
»Leider ist mir schlecht geworden«, log ich.
Conrad kam mir sofort zu Hilfe: »Bier auf Wein. Ich hatte sie gewarnt, aber â¦Â«
»Aber ich wollte nicht hören«, sagte ich.
»Ist halt passiert«, bemerkte er und fragte nach dem Weg zur Waschmaschine.
Als er in den Flur ging, warf Janie mir einen aufgeregten Blick zu, aber ich glotzte nur ausdruckslos vor mich hin und schüttelte dezent den Kopf. Nichts passiert. Es war nicht nur das erste Mal, dass ich Janie anlog, sondern auch das erste Mal, dass ich ihr verschwieg, was in mir vorging. Ich spürte, dass es ein entscheidender Augenblick war. Wie groà würde die Lüge noch werden?
»Ihr wart sechs Stunden da drin. Und dann ist nichts passiert?« Eher enttäuscht als ungläubig verschränkte Janie die Arme vor ihrem engen Chicago-Cubs-T-Shirt.
Ich zuckte mit den Schultern. »Wir haben ein bisschen rumgeknutscht.«
»Weiter nichts? Ist er dir nicht mal unter die Bluse gegangen?«, flüsterte sie ernüchtert und schielte Richtung Waschkeller.
Ich verneinte und sah im Geist seine Hände auf meinen Brüsten und seine Lippen auf meinem Hals, Bauch und Rücken.
»Und? Küsst er gut?«
»Ja.«
»Ich wusste es. Er ist sooo süÃ.«
Ich lächelte.
»Wirst du ihn wiedersehen?«
»Wohl kaum«, erwiderte ich â und log wahrscheinlich schon wieder. Wann würde ich ihn wiedersehen? Ich hatte nämlich beschlossen, dass das mit uns doch keine einmalige Sache bleiben sollte.
Während wir darauf warteten, dass die Waschmaschine fertig wurde, schauten wir im Wohnzimmer zu dritt MTV . Conrad und ich saÃen nebeneinander, auf demselben Tweed-Sofa, auf dem wir uns am Abend zuvor nähergekommen waren, aber jetzt achteten wir darauf, einige Zentimeter Platz zwischen uns zu lassen. Janie lag ausgestreckt auf dem Boden, stöhnte immer wieder und fragte uns, ob sich das Zimmer auch für uns drehte. Ich simulierte einen Kater, wegen der Geschichte mit dem angeblich vollgekotzten Laken. In Wirklichkeit aber fühlte ich mich hellwach, alle meine Sinne waren geschärft, während wir uns einen Videoclip nach dem anderen ansahen. Ich kannte sie alle schon, aber jetzt schien jede Textzeile, jedes Bild mit einer neuen Bedeutung aufgeladen, auch wenn es eigentlich gar keine gab: »Basket Case« von Green Day,
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