Wo die Nelkenbaeume bluehen
ihr Lenas Worte übersetzt hatte. „Oh ja“, antwortete sie. „Allerdings. Und das war folgendermaßen …“
19. KAPITEL
Hafen von Mji Mkongwe, Sansibar, Januar 1888
Sie mussten flüchten.
Annemarie erinnerte sich nicht mehr an vieles von dem, was in den folgenden Tagen geschah. Es ging alles unter in einem Wirbel aus Schmerz und Trauer.
Nathan war tot.
Dies war das Einzige, was wirklich zu ihr durchgedrungen war. Doch es konnte nicht wahr sein. Es durfte nicht wahr sein! Allein der Gedanke war unerträglich. Sie wusste, dass es ihr, wenn sie ihn zuließ, das Herz brechen und es sie innerlich zerreißen würde.
Sie sah bekannte Gesichter.
Henriette, Khamisi – und immer wieder Mack.
Dunkel erinnerte Annemarie sich, dass er sie zu einem Wagen getragen hatte. Danach verlor sich alles. Vielleicht war sie ohnmächtig geworden, vielleicht auch nicht. Es war gleichgültig. Alles war gleichgültig ohne Nathan.
Sie erwachte in einem kleinen Raum, der ihr seltsam vertraut vorkam, auch wenn sie im ersten Moment nicht wusste, wo sie sich befand. Vorsichtig richtete sie sich auf, und als das leichte Schwindelgefühl nachließ, blickte sie sich um.
„Oh …“
Es war das kleine Büro in der Lagerhalle, in der Nathan und sie sich immer getroffen hatten. Mit einem Mal schien alles auf sie einzustürzen. Sie erinnerte sich wieder, was geschehen war. Ganz klar und deutlich bis zu Albrechts Erscheinen, danach nur verschwommen. Fetzen von Bildern, die sich nicht zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügen wollten.
Sie krümmte sich, als der Schmerz wie eine Woge über sie hinwegrollte und für einen Moment alles mit sich riss. Erinnerungen, Gedanken, Bilder. Zurück blieb nichts als brennende Pein. In ihren Lungen, in ihren Adern, in ihrem Kopf.
Wie betäubt rollte Annemarie sich auf dem Bett zusammen, die Knie bis zum Kinn anzogen, die Arme um die Beine geschlungen. In diesem Raum, auf diesem Bett hatte sie die glücklichsten Stunden ihres Lebens erlebt.
Mit Nathan.
Doch Nathan war tot. Es war nicht nur ein böser Traum gewesen.
Sie wusste nicht, wie lange sie so dagelegen hatte. Tränen waren ihr über die Wangen geströmt, hatten salzige Spuren hinterlassen, die langsam trockneten.
Und dann war sie plötzlich nicht mehr für sich. Sie hörte es nicht, sie sah es nicht – sie spürte es einfach. Die Qualität der Stille hatte sich verändert. Es war nicht mehr allein ihre Stille.
„Annemarie …?“
Knarrende Schritte auf dem Dielenboden. Mack. Er kniete sich vor sie neben das Bett. In seinen leuchtend blauen Augen lag Mitgefühl, aber auch Schmerz. Und der Wunsch zu helfen.
Sie schloss die Augen, als sie seine Hand auf ihrem Haar spürte. Es war eine so zärtliche, so liebevolle Geste, dass die Tränen, die sie versiegt geglaubt hatte, wieder strömten. „Oh Gott, Mack, ich vermisse ihn so“, stieß sie mit bebender Stimme hervor.
Schweigend streichelte er ihr weiter das Haar. Was hätte er auch sagen sollen? Nichts auf der Welt konnte ihr den Schmerz des Verlustes nehmen. Und nichts konnte es ihr leichter machen.
„Ich weiß“, sagte er nach einer Weile. Seine Stimme klang belegt, sein Gesicht wirkte grau und nicht mehr so jungenhaft, wie sie es kannte. „Ich vermisse ihn auch.“
Annemarie konnte nicht sagen, wie lange sie so dasaßen. Minuten, Stunden. Dann dachte sie an das Kind, das sie unter dem Herzen trug. Nathans Kind. Und plötzlich wusste sie, dass sie sich in ihrer Trauer nicht verlieren durfte.
Ihr Kind brauchte sie.
Vorsichtig richtete sie sich auf.
„Wir müssen gehen“, murmelte sie. „Wo ist Henriette?“
„Ich habe sie fortgeschickt“, erwiderte Mack. „Sie ist zusammen mit Khamisi auf einem Handelsschiff in Richtung Hamburg. Auf Sansibar zu bleiben wäre zu gefährlich für sie gewesen. Sie wird überall gesucht.“ Er atmete tief durch. „Auch wir werden gesucht. Jonathan und Celia Bennett geben uns die Schuld an dem Feuer, das auf der Farm ausgebrochen ist. Außerdem will man uns befragen – wegen des Tods deines Mannes.“
Annemarie nickte. Obwohl Albrecht ihr Ehemann gewesen war, konnte sie keinerlei Gefühlsregung empfinden.
„Captain Bartholomew hat sich bereit erklärt, uns außer Landes zu bringen. Annemarie, ich …“ Er zögerte kurz, schüttelte dann den Kopf. „Es tut mir leid, dass das passiert ist. Ich wünschte, es hätte mich erwischt und nicht Nathan. Ich …“
„Schhh, still“, sagte sie und legte sich den Zeigefinger an die Lippen.
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