Wo die Nelkenbaeume bluehen
nicht begreifen, dass Lena hier eine Verantwortung übernommen hatte. Wenn sie seinem Rat folgte, dann würden all diese Menschen ihr Zuhause verlieren. Und daran trüge nicht Stephen oder das Schicksal die Schuld, sondern ganz allein sie.
Das war einer der Gründe, warum sie inzwischen nicht mehr gern ans Telefon ging, wenn sie Patricks Nummer auf dem Display erblickte. Einer – aber nicht der einzige. Sie hatte es außerdem satt, dass er ständig versuchte, ihr ein schlechtes Gewissen einzureden. Was erwartete er denn von ihr? Dass sie sich für den Rest ihres Lebens in ihre Trauer ergab? Verstand er denn nicht, dass sie lernen musste, ein Leben ohne Andy zu führen – so schwer es ihr auch fallen mochte?
Sie schüttelte den Gedanken ab. „Meinen Sie, Sie könnten mich vielleicht mit ein paar der Leute hier bekannt machen?“, wandte sie sich an Aaliyah. „Wenn ich hier leben möchte, sollte ich auch die Menschen kennenlernen, die für mich arbeiten.“
Aaliyah strahlte. „Es wird mir ein Vergnügen sein.“
9. KAPITEL
Nachdem Aaliyah und Lena zum Haus zurückgekehrt waren, stürzten sie sich mit Feuereifer in die Vorbereitungen für das große Fest. Lena wurde jede einzelne Helferin vorgestellt, die meisten davon Verwandte oder enge Freunde der Familie, sodass ihr schon bald vor lauter Namen der Kopf schwirrte. Doch es war auch schön, das Haus einmal so voller Menschen, so voller Leben zu haben.
Sie half dabei, Speisen zuzubereiten, von denen sie nie zuvor gehört hatte. Es wurde viel gelacht und gescherzt. Und obwohl einige der Frauen, die gemeinsam mit ihr in der Küche herumwirbelten, kein Wort Englisch sprachen, verstand man sich irgendwie. Trotzdem nahm Lena sich vor, so schnell wie möglich zumindest ein wenig Kiswahili zu lernen.
Am Abend dann, als fast alles fertig war, entzündeten die Männer ein Lagerfeuer auf der kleinen Lichtung hinter dem Haus, und alle setzten sich im Kreis darum herum.
Lena konnte noch immer nicht glauben, wie viele Sterne hier am Nachthimmel prangten. Es waren Millionen und Abermillionen. Zu Hause in Berlin hatte sie so einen Anblick nie erlebt. Kein Wunder, schließlich wurde es dort auch niemals wirklich dunkel – ganz im Gegensatz zu hier. Allein das orangerote Glühen des Feuers drängte die Schwärze zurück.
Das brennende Holz knackte und knisterte. Und dann fing jemand an zu singen, und alle fielen mit ein.
Einen Moment lang fühlte Lena sich wie in einem Traum. Sie schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und wandte ihr Gesicht den Sternen zu. Ihre Gedanken stoben davon, und sie ließ sich einfach nur treiben. Unvermittelt stieg eine unermessliche Sehnsucht in ihr auf, und unter ihren geschlossenen Lidern sammelten sich Tränen.
Wie sehr sehnte sie sich danach, nur noch ein einziges Mal in Andys starken Armen zu liegen, seinen warmen Atem am Hals und seine weichen Lippen auf ihrem Mund spüren zu dürfen. Fast glaubte sie, eine sanfte Berührung, hauchzart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, an ihrer Wange zu spüren. Doch dann wurde ihr klar, dass es nur eine Träne war, die sich aus ihrem Augenwinkel gelöst hatte.
Sie schluckte. Dann öffnete sie die Augen und blinzelte die Tränen fort, ehe jemand sie bemerken konnte. Doch Aaliyah konnte sie nichts vormachen.
„Sie denken an Andy, nicht wahr?“
Wieder spürte Lena, wie ihre Augen feucht wurden, doch sie beherrschte sich und schaffte es sogar, ein Lächeln auf ihre Lippen zu zwingen. „Er fehlt mir“, gestand sie. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich ihn niemals wiedersehen werde.“
Ein paar Frauen schauten Aaliyah fragend an, die für sie übersetzte. „Wir sollten dringend damit anfangen, Ihnen Unterricht in Kiswahili zu geben“, sagte sie schmunzelnd.
„Fantastische Idee“, stimmte Lena zu. „Was heißt zum Beispiel ‚Hallo‘ und ‚Auf Wiedersehen‘ auf Kiswahili?“
Im Nu waren alle mit Feuereifer bei der Sache. Jeder brannte regelrecht darauf, Lena etwas beizubringen. Und ihr machte die ganze Sache so viel Spaß, dass sie all ihre Sorgen und Probleme für den Augenblick vergaß. Warum sollte sie nicht einfach einmal unbeschwert und glücklich sein? Die Realität würde sie schon früh genug wieder einholen.
„Sind Sie eigentlich mit ihrem Buch schon vorangekommen?“, fragte Ngabile irgendwann, und Lena zuckte zusammen.
Das Buch.
Sie war hergekommen, um es für Andy zu Ende zu bringen. Doch in den letzten Tagen war so viel geschehen, dass sie kaum
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