Wo die Nelkenbaeume bluehen
Geld träumten, reichen Kaufleuten und den Ärmsten der Armen, den Verschleppten, die auf den Sklavenmärkten der Stadt ein ungewisses Schicksal erwartete.
„Als ich vor siebenundachtzig Jahren das Licht der Welt erblickte, war die Sklaverei offiziell bereits abgeschafft“, erklärte Fathiya mit brüchiger Stimme. „Aber das bedeutete nicht, dass wir frei gewesen wären. Ich kann mich noch gut daran erinnern, was meine Großmutter Subira und ihr Bruder Faraji mir erzählt haben, die damals aus der Gefangenschaft geflüchtet sind …“
Lena hörte fasziniert zu – und als sie am nächsten Morgen nach dem Frühstück in ihrem Zimmer vor dem Laptop saß und der Cursor links oben auf dem leeren Blatt blinkte, war ihr Kopf wie leer gefegt.
Gut ein Dutzend Mal fing sie an zu tippen und löschte den Text, den sie geschrieben hatte, gleich wieder. Es war wie verhext. Sie schaffte es einfach nicht, das in Worte zu fassen, was sie ausdrücken wollte. Sie schloss die Augen und presste die Handballen auf ihre Lider. Innerlich sah sie den Anfang der Geschichte bereits vor sich – es gelang ihr nur nicht, ihn auch ihren Vorstellungen entsprechend zu Papier zu bringen.
Durch das offene Fenster hörte sie den Wind, der durch die Kronen der Nelkenbäume strich. Die Männer waren heute schon beim Morgengrauen hinaus auf die Plantage gegangen, um den Rest der Nelkenernte einzuholen. Aaliyah hatte ihr erklärt, dass die Erträge in den vergangenen Jahren immer weiter zurückgegangen waren. Rafe Bennett hatte versucht, dem mit Düngemitteln entgegenzuwirken – mit mäßigem Erfolg.
In diesem Jahr war die Ernte auf einem absoluten Rekordtiefpunkt. Die Erlöse, die sie maximal aus dem Verkauf der Gewürznelken erzielen konnten, deckten gerade einmal die Betriebskosten der Farm. Davon, einen Gewinn zu erwirtschaften, konnte Lena bloß träumen.
Sie klappte den Deckel des Laptops zu. Das hatte ja doch keinen Sinn! Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren, sosehr sie sich auch bemühte. Doch das war nicht ihr eigentliches Problem, und das wusste sie auch.
Die einfache und bittere Wahrheit lautete, dass sie nicht zur Schriftstellerin taugte. Als Lehrerin hatte sie die Aufsätze ihrer Schüler korrigiert und ihnen, wenn nötig, Hilfestellung gegeben. Was für eine Ironie des Schicksals, dass sie selbst nicht in der Lage war, ihr fachliches Wissen zu nutzen und umzusetzen.
Frustriert fuhr sie sich mit der Hand durchs Haar. Vermutlich war es ziemlich vermessen von ihr gewesen, anzunehmen, dass sie sich einfach hinsetzen und Andys Buch schreiben könnte. Aber irgendwie musste es ihr gelingen. Es ging hier um seine Geschichte. Mit diesem Buch wollte sie dafür sorgen, dass er niemals in Vergessenheit geriet.
Sie blickte in die Ferne, wo das Blau des Ozeans in einiger Entfernung zwischen den Kronen der Bäume hervorblitzte. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie seit ihrer Ankunft auf Sansibar noch nicht ein Mal bei hellem Tageslicht am Meer gewesen war.
In Berlin war sie, wenn ihr alles zu viel wurde und ihr die Dinge über den Kopf wuchsen, immer an die Spree gegangen. Der Anblick des Wassers, das träge dahinfloss, hatte sie zur Ruhe kommen lassen und sie mit neuer Kraft erfüllt. Kurz entschlossen wandte sie sich vom Fenster ab, verließ ihr Zimmer und ging die Treppe hinunter ins Erdgeschoss.
„Wie weit ist es bis zum Strand?“, fragte sie Aaliyah, die in der Küche stand und das Mittagessen vorbereitete.
„Nicht weit“, entgegnete sie und erklärte Lena, wie man auf kürzestem Weg zum Meer gelangte. „Soll ich jemanden bitten, Sie hinzuführen?“
„Nein.“ Lena schüttelte den Kopf. „Das schaffe ich schon allein.“
Die Luft, die ihr entgegenschlug, als sie durch die Hintertür ins Freie trat, war drückend schwül. Doch da der Weg, den Aaliyah ihr erklärt hatte, durch den Wald führte, war sie zumindest vor der sengenden Sonne geschützt.
Es war das erste Mal, dass sie allein hier draußen unterwegs war. Und obwohl sie sich ein kleines bisschen davor fürchtete, die Orientierung zu verlieren, war es doch ein gutes Gefühl. Prachtvolle gemusterte Schmetterlinge flatterten umher, und einer setzte sich sogar auf ihre Hand, als Lena sie ausstreckte. Zwischen den Bäumen hangelten sich kleine Äffchen mit rotem Rückenfell und weißer Brust von Ast zu Ast. Eine Affenmutter, die ihr Junges unter dem Bauch trug, blieb in kurzer Entfernung von Lena in einer Astgabel sitzen und musterte sie neugierig.
Rings um
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