Wo die Nelkenbaeume bluehen
spätestens jetzt, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, Berlin den Rücken zu kehren. Sie konnte nicht genau benennen, wann es geschehen war. Fest stand nur, dass sie sich hier und jetzt so frei und unbeschwert fühlte wie schon sehr lange nicht mehr. Und wenn Stephen, so wie jetzt, bei ihr war, konnte sie die schwarzen Wolken, die ihr Leben seit Andys Tod überschatteten, für einen kurzen Augenblick vergessen.
Zumindest so lange, bis ihr schlechtes Gewissen sie wieder einholte. Es erschien ihr nicht richtig, glücklich zu sein. Sie hatte alles verloren, was ihr im Leben etwas bedeutete. Durfte sie jemals wieder etwas anderes empfinden als Trauer und Verzweiflung?
Stephen riss sie aus ihren finsteren Grübeleien, indem er sie beim Arm nahm und mit sich zog. „Komm“, sagte er. „Ich will dir ein paar Freunde von mir vorstellen.“
Aus der Nähe betrachtet wirkten die Hütten der Leute sogar noch armseliger. Keine einzige verfügte über richtige Fenster mit Glas, so wie Lena es von zu Hause gewöhnt war. Um ein wenig Licht hineinzulassen, waren rechteckige Löcher in die Wellblechwände geschnitten worden.
Eine junge Frau überquerte, zwei volle Zehnliterkanister schleppend, die unbefestigte Straße, die einmal quer durch das Dorf verlief, und verschwand in einer der Hütten.
„Trinkwasser“, erklärte Stephen, der Lenas fragenden Blick bemerkte.
Erst jetzt wurde ihr klar, dass die Häuser weder über eine Wasser-, noch über eine Strom- oder Abwasserversorgung verfügten. Es gab kein Telefon, kein Internet und kein Kabelfernsehen. Alles, was Lena bisher immer ganz selbstverständlich vorgekommen war, existierte hier einfach nicht.
„Der Brunnen liegt etwa einen halben Kilometer von hier entfernt“, sprach Stephen weiter. „Als ich das letzte Mal dort war, lag der Wasserspiegel schon bedenklich tief. Wie ich hörte, hat sich die Situation zwischenzeitlich verschärft, sodass die Menschen hier jetzt mehr als vier Kilometer weit zum nächsten Brunnen laufen müssen, um ihr Wasser zu holen. Ich würde dir übrigens raten, nichts von dem zu essen oder zu trinken, was man dir anbietet, sofern es nicht gekocht oder ausgebacken wurde. Die Mägen der Menschen hier sind an das verschmutzte Trinkwasser gewöhnt, mit dem sie alle Dinge des täglichen Bedarfs verrichten. Ich war einmal so leichtsinnig, von einem mir unbekannten Gericht zu kosten, das Yasins Großmutter zubereitet hat. Danach bin ich fast zwei Wochen ausgefallen. Ich kann dir sagen, das war eine Erfahrung, die ich nicht unbedingt wiederholen möchte. Seitdem bringe ich bei meinen Besuchen immer ein paar Tabletten zur Wasseraufbereitung mit.“ Lächelnd zuckte er mit den Schultern. „Wobei ich allerdings stark vermute, dass sie sie gar nicht verwenden.“
Lena schüttelte fassungslos den Kopf. Natürlich hatte sie gewusst, dass es nicht allen Menschen auf der Welt so gut ging wie jenen in den Industrieländern. Und sie musste sich vor Augen halten, dass die Verhältnisse auf Sansibar im Gegensatz zu denen auf dem Kontinent noch recht gemäßigt waren. Dennoch – es schockierte sie, mit eigenen Augen zu sehen, unter welchen Bedingungen diese Menschen hier lebten.
Zu den Kindern hatten sich jetzt einige Jugendliche und auch ein paar Frauen gesellt, die aufgeregt auf Kiswahili auf Stephen einredeten. „Entschuldige bitte“, sagte er schließlich an Lena gewandt. „Es kommt hin und wieder vor, dass ich als Außenstehender gebeten werde, bei Streitigkeiten zu vermitteln. Du hast doch nichts dagegen, oder?“
Lena schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht.“
Interessiert blieb sie in der Nähe stehen und beobachtete, wie Stephen versuchte, zwischen zwei Frauen zu vermitteln. Sie verstand zwar kein einziges Wort, doch es war offensichtlich, wie sehr er sich bemühte.
Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie diesen Mann nicht womöglich vorschnell verurteilt hatte. Von Anfang an hatte sie ihn in die Schublade des gewissen- und skrupellosen Geschäftemachers gesteckt. Doch jedes Mal, wenn sie einander begegneten, bewies er ihr aufs Neue, dass er sehr viel mehr war als das. Er faszinierte sie immer mehr. Ihm zuzusehen, wie er sich für diese Leute einsetzte, wie er sich kümmerte, ohne auch nur im Geringsten auf sie herabzublicken … Das hatte sie ihm nicht zugetraut.
„Und? Hast du helfen können, das Problem zu lösen?“, fragte sie, als Stephen wieder zu ihr zurückkehrte.
Er lachte. „Die beiden sind eigentlich beste
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