Wo die Wahrheit ruht
aufgelöst. Zitternd lief sie zurück in die Galerie, schloss die Tür hinter sich ab und drehte das “Geschlossen”-Schild ins Fenster. Dann kramte sie in ihrer Handtasche nach der Nummer, die der Polizeichef ihr am Morgen aufgeschrieben hatte, und wählte sie hastig.
Ein unbekannter Polizeibeamter nahm den Anruf entgegen und notierte ihre Meldung. “Wir kommen vorbei und schauen uns mal um, Miss McKenzie”, sagte er. “Sind Sie noch in der Galerie?”
“Nur noch ein paar Minuten. Dann bin ich mobil erreichbar oder bei Denise Baxter zu Hause.”
“Rühren Sie sich besser nicht von der Stelle, bis wir kommen. Es wird nicht lange dauern.”
“Das Haus der Baxters liegt nur zwei Blocks entfernt.” Sie warf einen Blick auf den Brieföffner, der sie auf dem Weg begleiten würde. “Mir wird schon nichts passieren.”
Sie beendete das Gespräch, schlüpfte in ihre rote Lederjacke, schaltete die Alarmanlage ein und knipste bis auf die Schreibtischlampe alle Lichter aus. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand in der Dunkelheit lauerte, trat sie auf die Straße hinaus.
Die Baxters lebten in einem bezaubernden Haus im Kolonialstil, dessen vordere Veranda ausgehöhlte Kürbisse und Maisstangen zierten. In einer Ecke stand eine mit leuchtend goldenen Chrysanthemen bepflanzte alte Schubkarre. Grace' Blick fiel auf die gelben Chrysanthemen in ihrer Hand. Ihr Geschenk war zwar wenig einfallsreich, doch zumindest würden sich die Farben nicht beißen.
Mit einem herzlichen Lächeln auf den Lippen und einer Schürze bekleidet, die dazu aufforderte, die Köchin zu küssen, öffnete Denise die Tür. Sie zeigte sich überschwänglich begeistert von den mitgebrachten Blumen. “Danke, Grace. Woher hast du gewusst, dass Gelb meine Lieblingsfarbe ist?”
“In deinem Laden gibt es viel Gelb. Ich habe einfach geraten.”
“Wie aufmerksam von dir.”
Sie führte Grace in eine große Wohnküche, in der ein gemütliches Kaminfeuer prasselte. Der Duft von Tomaten, Knoblauch und Olivenöl ließ Grace das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Am Küchenbecken stand eine junge Frau, nicht älter als zwanzig, und zupfte Römersalat in eine Schüssel.
“Du musst Lucy sein”, sagte Grace, ohne darauf zu warten, dass Denise sie ihr vorstellte.
Das Mädchen, eine hübsche Blondine mit leuchtend blauen Augen, ergriff ihre Hand und schüttelte sie. “Und Sie sind Grace.” Sie nahm Grace die Jacke ab und hängte sie an einen Haken neben dem Fenster. “Sie sehen nicht aus wie eine Museumskuratorin. Aber zugegebenermaßen sind Sie auch die erste, die ich kennenlerne.”
Grace lachte. “Wenn das ein Kompliment sein soll, dann vielen Dank.”
“Keine Ursache.”
Denise schenkte Rotwein in bereitstehende, langstielige Gläser. Sie reichte Grace und Lucy jeweils ein Glas und hob dann ihr eigenes. “Willkommen bei uns, Grace.” Lucy wiederholte die Begrüßung, und die drei Frauen stießen miteinander an.
“Du trägst die Halskette”, bemerkte Denise mit unverhohlener Freude. “Ich hatte recht. Sie ist wie für dich gemacht.”
Grace berührte den Stein. “Sie gefällt mir sehr. Noch einmal vielen Dank, Denise.”
Der Wein, ein italienischer Ruffino, schmeckte weich und kräftig. Schmeichelnd floss er Grace' Kehle hinunter und löste die Anspannung der vergangenen Stunden.
Denise musterte sie über den Rand ihres Glases hinweg. “Was ist los, Grace? Du wirkst mitgenommen.”
Grace lachte nervös. “Sieht man mir das so deutlich an?”
“Du siehst die ganze Zeit zum Fenster hinüber.”
Da ihr kein Grund einfiel, warum sie den Vorfall verschweigen sollte, erzählte Grace den beiden Frauen, was soeben in der Galerie passiert war.
“Das ist bestimmt derselbe Mann, der dich gestern Abend angegriffen hat”, meinte Denise empört. “Dass er die Unverschämtheit besitzt …”
“Nein, das war er nicht”, unterbrach Grace sie. “Dieser Mann hier war viel kleiner. Außerdem wären mir gestern Abend selbst bei der Dunkelheit die roten Haare aufgefallen.”
“Rote Haare?”, riefen Lucy und Denise im Chor und schauten sich an.
“Große blaue Augen?”, fragte Denise.
“Die Farbe konnte ich nicht erkennen, aber er hatte definitiv große, runde Augen.”
Denise nickte. “Das war Bernie Buckman. Er ist … war … ein Freund von Steven. Frag mich nicht, warum. Wir waren alle erstaunt, als die beiden anfingen, so viel Zeit miteinander zu verbringen. Selbst Stricken und Striptease verbindet mehr als die
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