Wo die Wahrheit ruht
war mehr als chaotisch gewesen. Aus Platznot hatte er seine Kundenordner in einen einzigen Schrank gestopft, ohne sich vorher die Mühe zu machen, sie zu beschriften. Im selben Schrank stapelten sich dazu noch Dutzende von Rechnungen für verschiedenste Dienstleistungen wie Rahmenfertigung, chemische Reinigung, Holzaufarbeitung und Gartenarbeiten. Sämtliche dieser Rechnungen waren nach einem System zusammengeheftet worden, das offenbar nur Steven durchschauen konnte. Einige der Rechnungen waren umgehend bezahlt worden, andere hatten ein- oder zweimal angemahnt werden müssen. Rechnungen pünktlich zu bezahlen, war nie Stevens Stärke gewesen.
Inmitten des allgemeinen Chaos fand Grace eine Liste der aktuell in der Galerie ausgestellten Gemälde. Auch die dazugehörigen Kopien seiner Kundenkorrespondenz sowie die Echtheits- und Herkunftszertifikate der Werke, die er in Kommission genommen hatte, fielen ihr entgegen. Das Sortieren des Papierwusts und die Zuordnung der Gemälde entpuppten sich als zeitraubende und frustrierende Aufgaben, doch schließlich gelang es Grace, das Chaos zu lichten.
Dabei hielt sie ständig die Augen nach Informationen über das Eduardo-Arroyo-Gemälde auf, bis sie endlich auf einen Vertrag zwischen der Hatfield Gallery und einem Kunsthändler aus Philadelphia namens Victor Lorry stieß.
Laut Dokument sollte das Gemälde vom fünften bis zum zwanzigsten Oktober ausgestellt werden. Wenn es bis dahin nicht verkauft wäre, würde der Händler das Bild zurücknehmen.
Verdutzt studierte Grace noch einmal den von Steven und Lorry unterzeichneten Vertrag. Die kurze Laufzeit der Kommission irritierte sie. Warum beschränkte sie sich auf nur fünfzehn Tage, während alle anderen Gemälde dreißig, sechzig und sogar neunzig Tage in der Galerie gezeigt wurden?
Mit dem aufgeschlagenen Ordner auf den Knien, zog sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die Privatnummer ihrer Freundin Angie. Nach dem vierten Klingeln meldete sich ihre fröhliche Stimme vom Anrufbeantworter. “Hi, Leute. Im Moment kann ich leider nicht ans Telefon kommen, aber ihr wisst ja, was ihr zu tun habt.” Grace sprach ihr eine ausführliche Nachricht aufs Band und legte wieder auf. Dann knöpfte sie sich die umfangreiche Liste der Künstler vor, deren Werke die Galerie in Kommission genommen hatte, und begann, sie einzeln durchzutelefonieren.
Die meisten von ihnen hatten schon von Stevens Tod erfahren. Jeder Einzelne sorgte sich um seine Werke, schien jedoch erleichtert, als Grace erklärte, dass sie Kuratorin des Griff Museum sei, und die Verträge, die sie mit der Hatfield Gallery geschlossen hatten, ihre Gültigkeit behielten.
Bei Victor Lorry hatte sie jedoch kein Glück. Nachdem sie ihn zweimal angerufen hatte und jedes Mal nur der Anrufbeantworter angesprungen war, hinterließ sie ihm eine Nachricht, in der sie ihn freundlich um einen Rückruf bat. Während sie auf seinen und auf Angies Anruf wartete, ging sie die Rechnungen, Kontoauszüge und Steuerbescheide durch, die die Polizei bereits zurückgeschickt hatte.
Schnell stellte sie fest, dass die Geschäfte alles andere als glänzend liefen. Das überraschte sie. Seit Steven die Galerie besaß, hatte sie drei- bis viermal im Jahr mit ihm gesprochen, und stets hatte er mit seinem riesigen Erfolg geprahlt. Seine laufenden Geschäftskosten fraßen allerdings einen großen Teil seiner Einnahmen auf. Es blieb genug übrig, um gut davon zu leben, aber bei Weitem nicht so viel, wie er behauptet hatte.
Als die Dunkelheit hereinbrach, hatten weder Victor Lorry noch Angie zurückgerufen. Die Verabredung mit den Baxters fiel ihr wieder ein, und sie warf einen Blick auf die Uhr, die über dem Durchgang zum Hinterzimmer hing. Erschrocken schrie sie auf. Durch das kleine Seitenfenster, gleich neben dem Durchgang, starrte sie das Gesicht eines Mannes an, das von dem Laternenlicht auf der Straße gespenstisch angestrahlt war.
Umrahmt wurde dieses Gesicht von tiefrotem, an den Seiten kurz geschorenen Haar, das auf dem Oberkopf in dicke Locken überging. Der Mann schien Anfang dreißig zu sein, hätte aber auch als jünger durchgehen können. Angst spiegelte sich in seinen großen runden Augen, als Grace die erstbeste Waffe schnappte, die sie finden konnte – einen Brieföffner in Dolchform.
Das Gesicht verschwand.
Mit der Waffe in der Hand rannte Grace zur Tür und hoffte, einen Blick auf den Spanner oder seinen Wagen werfen zu können, doch er hatte sich bereits in Luft
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