Wo die Wahrheit ruht
Sandwiches mit beiden Händen packte und kräftig hineinbiss.
“Nun …” Sie kaute, schluckte und trank einen Schluck Eistee. “Möchten Sie die lange oder die kurze Version hören?”
Er lachte. “Am besten eine, die ich verstehe.”
“Okay.” Sie biss wieder von ihrem überbackenen Pastrami-Roggensandwich ab. “Im Allgemeinen planen und leiten Kuratoren den Aufbau, die Katalogisierung und das Ausstellen von Kunstsammlungen. Dazu organisieren wir noch Vorträge, Workshops und sammeln Spendengelder. In einem kleinen Museum wie dem Griff übernimmt der Kurator manchmal auch noch weitere Aufgaben. Ich leite zum Beispiel die Abteilung der amerikanischen Impressionisten.”
Da Matt Ende der Neunzigerjahre mit einem Einsatz als Sonderermittler in Sachen Kunst- und Antiquitätenfälschung betraut worden war, wusste er alles, was es über Kuratoren, Archivare und Konservatoren zu wissen gab. Doch er spielte den Ahnungslosen, um Grace bei ihren Ausführungen ungestört ansehen zu können.
Die Gerüchte, die er über sie gehört hatte, waren allesamt falsch. Grace war nicht einfach nur hübsch, sie war geradezu faszinierend. Was ihre Anziehungskraft dabei noch steigerte, war, dass sie sich ihrer Wirkung auf andere Menschen nicht im Mindesten bewusst war. Sie bemerkte weder das unverhohlene Starren der wenigen männlichen Gäste, noch die ein wenig dezenteren Blicke der Frauen. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich allein auf ihn und ihr gemeinsames Gespräch.
Ihre Augen besaßen einen warmen, magischen Glanz. Matt war sich nicht sicher, ob ihn die Farbe ihrer Augen eher an Haselnuss- oder Goldbraun erinnerte, auf jeden Fall konnte er seinen Blick nicht von ihr lösen. Grace' Gesichtszüge wirkten harmonisch – hohe Wangenknochen, ein starkes, entschlossenes Kinn und breite, sinnliche Lippen, auf denen nur ein Hauch von rosafarbenem Gloss lag. Ihr aschblondes Haar trug sie in einem sexy-zerzausten Fransen-Look, der den Stil und das Modebewusstsein einer Großstädterin verriet. Sie war klassisch gekleidet – mit einer gut geschnittenen grauen Hose und einem schwarzen Wolljackett über einer frischen weißen Bluse.
Matt ertappte sich dabei, wie er überlegte, was sie wohl tragen mochte, wenn sie alleine zu Hause war. Kuscheliges Flanell vielleicht. An den Füßen dicke Socken. Keinen BH.
In diesem Moment sprach sie ihn an und brachte ihn damit völlig aus dem Konzept. Heftig mit dem Sandwich gestikulierend, erzählte sie von den veralteten Ansichten des Museumsdirektors.
“Er hat einmal die Gelegenheit, eine bedeutende Sammlung auszustellen, sausen lassen, nur weil er sie lediglich für Januar und Februar bekommen hätte. Er fürchtete, das Museum würde dabei nur Miese machen. Zugegeben, die Winter in Boston sind hart, aber würde das schlechte Wetter wahre Kunstfreunde davon abhalten, eine wichtige Ausstellung zu besuchen? Wohl kaum. Also was ist passiert? Ein anderes Museum hat die Ausstellung organisiert und einen Besucherrekord damit erzielt. Essen Sie ihre Chips noch auf?”
“Nein.” Er schob ihr seinen Teller hinüber. “Bedienen Sie sich.”
“Danke.”
“Darf ich Sie etwas fragen?”
Sie nahm einen Kartoffelchip. “Sicher.”
“Wie schaffen sie das? Wie groß sind sie? Ein Meter einundsechzig? Und wiegen ungefähr fünfundneunzig Pfund?”
Seine Fragen schienen sie nicht zu irritieren. Sie aß weiter. “Hundert Pfund. Warum?”
“Wie können Sie so viel essen? Wo stecken Sie das alles hin?”
Sie lachte. “Oh.” Sie nahm einen weiteren Kartoffelchip. “Das fragen mich viele. Die Antwort ist einfach. Ich kann nicht kochen, wenn ich also schon mal im Restaurant sitze, esse ich auf Vorrat, so ähnlich, wie ein Kamel Wasser trinkt.”
“Kochen Sie nie?”
Sie schüttelte den Kopf. “Traurig, nicht? Aber das kommt dabei heraus, wenn man ohne Mutter aufwächst.”
“Hat ihr Vater Sie großgezogen?”
“Ja, es gab nur uns beide. Er hat die ganze Kocherei übernommen und dazu noch eine Million anderer Dinge. Er ist wunderbar. Sie würden ihn mögen.”
Ihre Stimme klang auf einmal zärtlich. Er lächelte. Hätte er sie nicht schon längst von seiner Verdächtigenliste gestrichen, dann hätte er es exakt in diesem Moment getan. Mörder sprachen nicht auf diese Art von ihren Vätern. “Lebt er in Boston?”, hakte Matt nach.
“Nicht mehr. Vor einigen Jahren ist er nach Nappa Valley gezogen und Winzer geworden. Er hat alles verkauft, was er besaß, seine Klamotten und ein paar
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