Wo die Wahrheit ruht
gezeigt. Er hatte erst als Labortechniker und Archivar gearbeitet, bevor er zum Konservator und Kurator aufgestiegen war. Als Direktor hatte er bis zu seiner Pensionierung zehn Jahre lang das Lakeside Museum in Chicago geleitet. Noch immer war Ari als Berater tätig und hatte sich auf die Kunst des amerikanischen Westens und auf den amerikanischen Impressionismus spezialisiert.
Unter Experten galt er als einer der besten Gemäldegutachter des Landes. Diese Ansicht teilte unter anderem auch das FBI, das seine Dienste hin und wieder in Anspruch nahm.
Er war ein großer, schlanker Mann mit hellblauen Augen und vollem Haar, das fast ebenso weiß leuchtete, wie die zu seinem Markenzeichen gewordenen Anzüge, die er sommers wie winters trug. Pünktlich wie immer erschien er am nächsten Mittag um Punkt zwölf Uhr in einer Limousine mit Chauffeur. Er wirkte sehr elegant in seinem weißen Armani-Anzug und dem passenden Filzhut.
Grace ging auf die Straße hinaus ihm entgegen, um ihn zu begrüßen, als er aus dem Wagen stieg und seinen schwarzen Aktenkoffer heraushievte – sein “Labor auf Rädern”, wie er es nannte. “Hallo, Ari.” Schon vor langer Zeit, während ihrer Zusammenarbeit in Boston, hatte er sie gebeten, ihn nicht länger Professor zu nennen.
“Wie geht es Dir, meine Liebe?” Er zog den Hut vom Kopf und umarmte sie herzlich. “Wie ich sehe, bist Du immer noch so bezaubernd wie eh und je.”
“Und ich sehe schon, du bist immer noch der gleiche unverbesserliche Charmeur.”
“Ich sage doch nur die Wahrheit.”
Arm in Arm gingen sie zum Eingang. “Ich habe noch immer Gewissensbisse, dass ich dich von deinem Golfspiel weggelotst habe”, sagte sie, als sie die Stufen hinuntergingen. “Hätte ich gewusst …”
“Du brauchst überhaupt keine Gewissensbisse zu haben. Es hätte mich bitter enttäuscht, wenn du dich an jemand anderen gewandt hättest. Außerdem hast du mich davor bewahrt, mich auf dem Golfplatz komplett zum Narren zu machen. Ich spiele einfach lausig, musst du wissen. Mein Freund Ray hat mich nur angerufen, weil ihnen ein Mitspieler fehlte und sie einen schnellen Ersatz für ihren Vierer brauchten.”
Mitten im Satz hielt er inne. Sie hatten gerade die Galerie betreten, und der Arroyo stand auf einer Staffelei im Zentrum des Raumes. Ein einfallender Sonnenstrahl tauchte das Gemälde in ein weiches, goldenes Licht.
“Das da ist es, Ari. 'Markttag', das sechste Bild aus Eduardo Arroyos Marktserie.”
“Er hat schon immer zu meinen Lieblingskünstlern gehört.”
“Genau aus diesem Grund habe ich angerufen. Ich wusste, es würde dir Freude machen, einen echten Arroyo zu sehen – vorausgesetzt natürlich, dass er echt ist.”
“Nun, dann wollen wir mal an die Arbeit gehen.”
Er klappte seinen Aktenkoffer auf, in dem sich alles befand, was er benötigte, um die Echtheit eines Gemäldes außerhalb seines Labors zu prüfen. Gelegentlich jedoch war eine Fälschung von so meisterlicher Qualität, dass er das Gemälde für weitergehende Untersuchungen in sein Bostoner Labor bringen musste. Meist jedoch genügten ihm sein portables Röntgengerät und sein Vergrößerungsglas, um die Echtheit eines Werkes festzustellen.
Nachdem er das Gemälde durch sein Vergrößerungsglas gründlich studiert hatte, bat er Grace, die Jalousien zu schließen. Dann nahm er das Gemälde von der Staffelei herunter und legte es flach auf den Schreibtisch, wo er sein Röntgengerät positioniert hatte.
Grace stellte sich an seine Seite und beobachtete gespannt seinen Gesichtsausdruck.
Endlich schaltete er die Maschine aus und richtete sich auf. “Beeindruckend”, sagte er, ohne den Blick von dem Gemälde abzuwenden. “Die Art, wie die Farbe aufgetragen wurde, stimmt. Arroyos Daumenstriche, hier und da”, er deutete auf einige Bogengänge, die vom Dorfplatz abzweigten, “sind genau da, wo sie sein sollten, und das Spiel von Licht und Schatten, so wie es hier auf die Decke fällt, könnte besser nicht sein.”
Er drehte sich zu Grace um. “Doch leider macht auch diese große Kunstfertigkeit noch keinen echten Arroyo aus diesem Bild.”
Im ersten Moment blieb Grace fast das Herz stehen, obwohl sie insgeheim mit diesem Urteil gerechnet hatte. Sie malte sich schon den Skandal aus, den diese Nachricht verursachen würde – die schlechte Publicity für die Galerie und für Sarah. “Bist du dir ganz sicher?”, fragte sie und klammerte sich noch an das letzte bisschen Hoffnung.
“Komm her.” Er
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