Wo die Wahrheit ruht
winkte sie zu sich und reichte ihr das Vergrößerungsglas. “Schau dir das mal an. Um ungepflasterte Dorfstraßen so authentisch wie möglich darzustellen, mischte Arroyo gern Wüstensand in seine Farben. Diese Technik, die übrigens nur die Wenigsten kennen, verleiht der Straße eine körnige, fast schon kieselartige Qualität, die man mit bloßen Augen erkennen kann.”
“Jetzt sehe ich es”, sagte sie, als sie sich auf eine Stelle der Straße konzentriert hatte.
“Ja, aber den Effekt, den du siehst, auch wenn er sehr gut imitiert worden ist, wurde mit einem groben Pinsel erzielt. Die Röntgenfluoreszenz, mit der sich, wie du weißt, die Reinheit von Farben und anderen Substanzen bestimmen lässt, hat keinen Wüstensand zutage gefördert.”
Sie ließ das Vergrößerungsglas sinken.
“Es tut mir leid, Grace. Ich weiß, dass du trotz deines Verdachts auf ein anderes Urteil gehofft hast.”
Sie wusste nicht, wovor sie sich mehr gefürchtet hatte – eine Fälschung oder ein gestohlenes Original am Hals zu haben. Beides waren schreckliche Vorstellungen. “Irgendwann wäre die Wahrheit herausgekommen.”
“Was wirst du jetzt tun?”
“Die Fälschung anzeigen. Ich bin mir jedoch nicht sicher, was das für die Zukunft der Hatfield Gallery bedeutet.”
“Ich schätze, sie wird überleben, genauso wie es andere vor ihr getan haben. Selbst berühmte Museen mussten sich schon mit Fälschungen herumschlagen. Beim O'Keefe Auktionshaus in Seattle, wo ich als Kurator gearbeitet habe, waren vierzig Prozent aller angebotenen Werke Fälschungen. Einmal versteigerten wir einen alten Meister, der tatsächlich wie ein echter Raphael aussah. Eine Woche später jedoch, als der neue Besitzer das Gemälde begutachten ließ, stellte sich heraus, dass es doch eine Fälschung war. Es war tatsächlich ein handfester Skandal für uns – bedeutete aber zum Glück nicht das Ende für das Auktionshaus. Das O'Keefe ist so gut im Geschäft wie eh und je. Es ist gut möglich, dass Steven nicht gewusst hat, dass er an einen Fälscher geraten war. In diesem Fall kann man ihm keine Schuld anlasten.”
Dann erklär mir bitte, warum er eine Viertelmillion Dollar und einen Revolver im Küchenschrank versteckt hielt
?
Als Ari begann, langsam seine Ausrüstung wieder zusammenzupacken, bat ihn Grace: “Bitte, geh noch nicht, Ari. Ich möchte dich gern zum Lunch einladen. Wir haben uns so viel zu erzählen.”
“Grace, meine Liebe, nichts würde mir mehr Freude bereiten, als mit einer schönen Frau zum Lunch zu gehen. Aber meine Tochter feiert heute ihren dreißigsten Geburtstag, und ich habe versprochen, rechtzeitig zum gemeinsamen Familiendinner wieder zurück zu sein.”
“Dann hast du aber eine Einladung bei mir gut, okay? Wenn ich wieder zurück in Boston bin?” Seine Antwort entging ihrer Aufmerksamkeit, da sie durch das Fenster Matts Jeep kommen sah. Der attraktive FBI-Agent parkte seinen Wagen genau vor der Galerie. Sie stöhnte.
Ari hob den Kopf. “Wer ist das?”
“Matt Baxter. Er ist der Sohn des Mannes, der des Mordes an Steven verdächtigt wird. Außerdem ist er FBI-Agent – noch dazu ein sehr cleverer.”
“Sind sie das nicht alle?”
“Ich wollte damit sagen, dass er eine Weile als Sonderermittler in Sachen Kunst- und Antiquitätenfälschung gearbeitet hat und sich mit Fälschungen auskennt.”
“Weiß er über den Arroyo Bescheid?”
“Er vermutet etwas.”
“Dann solltest du ihm vielleicht besser die Wahrheit erzählen. Sie ist eine ziemlich schwere Bürde für einen allein, findest du nicht auch?” Er blickte zu Matt hinüber, der sich dem Ladeneingang näherte. “Vertraust du ihm?”
“Ich kenne ihn noch nicht lange.”
“Dann solltest du auf deinen Instinkt hören”, erwiderte er.
Matt trat durch die Tür und musterte die Szene: Ari, der seine Ausrüstung einpackte, und den immer noch auf dem Tisch liegenden Arroyo.
“Habe ich Sie gestört?”, fragte er.
“Nein.” Nicht annähernd so nervös, wie sie befürchtet hatte, stellte Grace die beiden Männer einander vor. “Matt, das ist ein alter Freund von mir, Ari Fishburn. Ari, das ist FBI-Spezialagent Matt Baxter.”
“Guten Tag!”, sagte Ari und ergriff Matts ausgestreckte Hand.
“
Professor
Ari Fishburn?”, fragte Matt. “Etwa der Ari Fishburn, der dem FBI geholfen hat, Joseph Reid, einen der geschicktesten Fälscher unserer Zeit, zu schnappen?”
Ari wirkte geschmeichelt. “Genau der bin ich, junger Mann.”
“Es ist mir
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