Wo die Wahrheit ruht
gesorgt, dass Lucy pünktlich zu ihrer Ballettstunde kam. Als die Zehnjährige eines Tages tränenüberströmt nach Hause gekommen war, weil sie keine Mutter mehr hatte, die die Hausaufgaben mit ihr machen konnte, war Denise eingesprungen.
Matt bezweifelte nicht, dass sie das alles aus selbstloser Güte getan hatte. So waren sie eben, die Newmans – vertrauensvoll, liebenswürdig, aufopfernd und großzügig.
Felicia war die große Ausnahme gewesen – das schwarze Schaf, sozusagen. Schön und von den Jungen umschwärmt, hatte sie es genossen, immer im Mittelpunkt zu stehen. Sie hatte sich kaum um die Gefühle der anderen geschert. Besonders hässlich hatte sie Dusty Colburn behandelt, den Mann, der später wegen ihrer Entführung verhaftet worden war. Ihr mangelndes Feingefühl, das sie die meiste Zeit über gut verborgen gehalten hatte, war der Grund gewesen, warum Matt ihre Beziehung beendet hatte. Dennoch hatte ihr Verschwinden ihn ebenso erschüttert wie alle anderen in der Stadt.
Doch während die Mehrzahl der Einwohner von New Hope die Version der Polizei akzeptierte, hatte Denise, die beim Verschwinden ihrer Schwester erst fünfzehn Jahre alt war, nicht dran geglaubt. “Die Polizei hat den Falschen verhaftet”, erzählte sie jedem, der ihr zuhörte. “Wir wissen doch alle, dass Dusty keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Und die Tatsache, dass er sich nicht verteidigen kann, ist noch lange kein Grund, ihn einzusperren.”
Wegen ihrer offenen Kritik an der Arbeit der Polizei von New Hope hatten viele erwartet, dass die Baxters sie als Babysitterin feuern würden. Das hatten sie jedoch nicht getan, hauptsächlich deswegen, weil Lucy so sehr an ihr hing, aber auch weil sie als eine der fürsorglichsten und zuverlässigsten Babysitterinnen der Stadt bekannt war.
Matts Einschätzung hatte anders ausgesehen. Seiner Meinung nach war Denise viel zu jung für einen ernsten, ruhigen Mann wie Fred Baxter. Wie lange würde es dauern, hatte er sich gefragt, bis seine hübsche junge Frau sich nach jemand anderem umsehen würde?
Leider hatten sich seine Befürchtungen bewahrheitet. Matt hätte alles darum gegeben, in diesem Fall nicht recht behalten zu haben.
Er drückte die Klingel, und nur wenige Augenblicke später öffnete Denise die Tür. Sie trug einen grellen, orangefarbenen Pullover, auf dessen Vorderseite ein aus Pailletten gestickter Kürbis prangte – dazu eine enge schwarze Hose. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, an ihren Ohrläppchen baumelten schwarz-weiße Geister-Ohrringe.
Im ersten Moment wirkte sie überrascht, doch dann machte sich sogleich ein freundliches Lächeln auf ihrem Gesicht breit. Denise war noch nie nachtragend gewesen. “Matt! Was für eine nette Überraschung. Hast du es dir anders überlegt?”
“Was?”
“Bei uns zu wohnen.”
“Nein, ich bin hergekommen, um mit dir zu reden. Hast du eine Minute?”
“Klar. Komm rein. Was möchtest du trinken?”, fragte sie, als sie ihn in die vertraute Küche führte. “Bier? Cola? Kaffee?”
“Nichts.” Er räusperte sich. Ihre Fröhlichkeit erschwerte seine Aufgabe. “Denise, ich bin nicht zum Vergnügen hier.”
Denise verstand sofort. “Natürlich. Du machst deine Runde, nicht wahr? Redest mit Leuten, legst eine Liste mit Verdächtigen an. Ich habe mich schon gefragt, wann ich an der Reihe bin.”
“Du darfst das nicht persönlich nehmen.”
“Natürlich nicht. Willst du dich nicht setzen? Oder ist das zu … freundschaftlich?”
Er nahm an dem alten Tisch Platz, an dem seine Familie so viele gemeinsame Mahlzeiten eingenommen hatte. Wehmütig blickte er sich um und entdeckte auf der Kücheninsel einen Kürbis-Pie – Lucys Lieblingskuchen.
“Also.” Denise schlug die Beine übereinander. “Was willst du wissen?”
“Als Erstes könntest du mir verraten, wo du an dem Abend warst, als Steven ermordet wurde.”
Denise ließ sich nicht anmerken, ob seine direkte Frage sie kränkte. “Hast du den Polizeibericht nicht gelesen?”
Jede einzelne Seite hatte er gelesen – das Gutachten des Leichenbeschauers und die Ergebnisse der ballistischen Untersuchung, die Aussagen der verschiedenen Zeugen aus Pat's Pub und auch die von Denise. “Ich würde es gerne aus deinem Mund erfahren. Wenn du nichts dagegen hast.”
“Durchaus nicht.” Hinter ihrer Unbekümmertheit versteckte sich ein gewisser Grad an Besorgnis, das konnte er spüren. “Ich habe im Laden an einem neuen Design
Weitere Kostenlose Bücher