Wo die Wahrheit ruht
“Wer war die Frau?”
Denise holte tief Luft. “Lucy.”
Grace starrte Denise einen Moment lang fassungslos und schweigend an. “Bist du dir ganz sicher?”, fragte sie schließlich.
“Ihr Wagen parkte dort, etwas versteckt, abseits der Straße. Ich hielt mich so lange hinter den Büschen versteckt, bis sie herauskam. Ich hatte mir schon fast eingeredet, dass ihr Besuch im Cottage völlig harmloser Natur sei. Steven half seinen Studenten auch manchmal nach dem Unterricht. Als die Tür aufging, wurde mir klar, wie naiv ich gewesen war.” Tränen liefen Denise' Wangen hinunter, doch sie machte nicht den Versuch, sie wegzuwischen. “Lucy sah so glücklich, so erfüllt aus. Da wusste ich, dass hinter ihrer Beziehung mehr steckte, als ich wahrhaben wollte.”
“Der teure Schmuck unter der Ladentheke lässt darauf schließen, dass du Steven zur Rede gestellt hast.”
“Noch am selben Abend. Du wirst nicht glauben, was er mir geantwortet hat.” Sie nahm ein Papiertuch und schnäuzte sich die Nase. “Er hat mir gesagt, dass sie ihm nichts bedeute. Sie wäre nur ein kleiner Zeitvertreib, ein junges Ding, das ihm das Gefühl gäbe, attraktiv und vital zu sein. Er war so gefühllos. Und die Art, wie er über Lucy redete, machte mich so wütend, am liebsten hätte ich ihn …” Sie hielt inne und tupfte sich über die Augen.
Eine eiskalte Faust schien sich in Grace' Magengrube zu bohren.
Am liebsten hätte ich ihn umgebracht.
War es das, was Denise hatte sagen wollen?
“Wusste Lucy von der Affäre zwischen dir und Steven?” Grace merkte, wie ihre Stimme stockte.
“Erst nachdem ich es ihr ein paar Tage später erzählt habe. Ich liebe dieses Mädchen wie mein eigen Fleisch und Blut, Grace, und die Vorstellung, ihr wehzutun, brachte mich fast um. Aber ich konnte es nicht ertragen, einfach zuzusehen, wie sie ihre Unschuld an einen Widerling wie Steven Hatfield verschwendete.”
“Wie hat sie es aufgenommen?”
“Gar nicht gut. Sie hat mich als Lügnerin beschimpft und mir vorgeworfen, ich wolle sie und Steven auseinanderbringen. Als sie schließlich einsehen musste, dass ich die Wahrheit sagte, flippte sie völlig aus. Sie schrie, fluchte und bedachte ihn mit den übelsten Schimpfnamen. Ich konnte es gar nicht glauben. Hätte ich geahnt, wie sie reagieren würde, ich hätte meinen Mund gehalten. Als sie meinen Laden verließ, war sie reif für die Zwangsjacke. Deshalb bin ich an dem Abend so lange hier im Geschäft geblieben – nicht, um zu arbeiten, wie ich der Polizei erzählt habe, sondern um meine Fassung zurückzugewinnen und mich für Freds Zorn zu wappnen. Ich war mir sicher, dass Lucy schnurstracks nach Hause rennen und Fred von der Sache zwischen mir und Steven erzählen würde. Wie sich später herausstellen sollte, hat er es jedoch nicht von ihr erfahren.”
“War Lucy da? Zu Hause?”
Denise blickte zur Seite. “Nein.”
“Wo ist sie gewesen?”
“Ich weiß es nicht.”
“Hast du nicht versucht, es herauszufinden?”
“Nein, Grace, ich habe es nicht versucht, okay?”, erwiderte sie scharf. “Ich hatte andere Probleme, mit denen ich mich auseinandersetzen musste. Zum Beispiel, dass mein Mann von der Polizei verhaftet wurde.”
“Ich versuche nur zu helfen.”
“Das weiß ich doch.” Denise sackte zusammen und schluchzte. Unfähig, ihre Qualen noch länger zurückzuhalten, schlug sie die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.
Erschüttert trat Grace zu ihr hinter den Ladentisch, um sie zu trösten. “Weine nicht, Denise. Lucy wird damit fertig. Sie wird darüber hinwegkommen. Das ist sie bereits.”
Denise schluchzte weiter.
“Gibt es da noch etwas? Etwas, das du mir noch verschweigst?”
Denise hob den Kopf. Mit rot unterlaufenen, verquollen Augen, die Wangen tränenüberströmt, flüsterte sie tonlos: “Ich glaube, Lucy hat Steven umgebracht.”
25. KAPITEL
F assungslos starrte Grace Denise an. Sie erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen, als Lucy am Küchenbecken stand, Salat putzte, plauderte und lachte. Sie war viel zu jung, zu süß, zu unschuldig, um so ein abscheuliches Verbrechen begehen zu können.
“Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemanden umbringen könnte”, erklärte Grace.
“Ich hab es auch nicht glauben wollen, aber als sie an dem Abend endlich nach Hause kam und ich ihr schonend beibringen musste, dass Steven umgebracht worden war, da hat sie überhaupt nicht reagiert.” Denise schaute Grace in die Augen. “Starr wie eine
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