Wo die Wahrheit ruht
…”
“Meinst du nicht, ich habe allen Grund dazu? Wenn mein eigener Bruder mich für eine Mörderin hält?” Sie rückte ein Stück von ihm ab, als hätte er sich plötzlich die Pest eingefangen. “Glaubst du tatsächlich, dass ich mir Dads Revolver geschnappt habe, zur Galerie gefahren bin, Steven kaltblütig erschossen und dann die Waffe zurückgelassen habe, um die Schuld Dad in die Schuhe zu schieben? Und dass ich nach einer solch widerwärtigen Tat dir und Daddy immer noch ins Gesicht blicken könnte?” In ihrer Miene spiegelten sich Schmerz und Enttäuschung. “Wie kannst du nur?”
“Ich habe es nicht glauben wollen, aber in der Geschichte, die du Denise erzählt hast, stecken Ungereimtheiten. Deshalb musste ich mit dir reden.”
Sie wurde wieder nervös. “Was denn für Ungereimtheiten?”
“Erinnerst du dich noch, in welcher Verfassung du warst, als du an jenem Abend nach Hause gekommen bist?”
Sie lachte heiser. “Klar, ich war völlig am Ende.”
“Was hast du gemacht, nachdem du Denise' Laden verlassen hast?”
“Ich bin den ganzen Weg bis Washington Crossing gefahren, habe dermaßen geheult und in meinem Selbstmitleid gebadet, dass ich nicht einmal mehr weiß, wie ich zurückgekommen bin.”
“Kannst du dich an den Moment erinnern, als Denise dir erzählt hat, dass Steven ermordet wurde?”
“Ja.”
“Es muss doch ein Schock für dich gewesen sein, aber du hast kaum reagiert.”
Sie blickte auf ihre ineinander verschlungenen Hände. “Dafür gibt es einen Grund.”
Die Art, wie sie ihren Blick abwandte, sagte ihm, dass ihm nicht gefallen würde, was sie zu sagen hatte. “Ich höre.”
“Als Denise mir von ihrer Affäre mit Steven erzählte, ist etwas in mir durchgebrannt. Ich bin ziemlich ausgerastet. Ich stürmte aus dem Laden und bin dann nach Hause gerast, um Daddys Revolver zu holen.”
Matt verkrampfte innerlich, doch er unterbrach sie nicht.
“Frag mich nicht, ob ich Steven wirklich hätte umbringen können oder nicht, denn ich weiß es selbst nicht. Vielleicht wollte ich ihm einfach nur Angst einjagen und ihm klarmachen, wie sehr er mich verletzt hat.”
Ein Windstoß blies ihr eine Haarsträhne ins Gesicht. Sie klemmte sich die Strähne hinters Ohr. “Daddys Revolver lag nicht am gewohnten Platz. Deshalb habe ich das Haus wieder verlassen und bin zur Galerie gefahren – meine Wut war die einzige Waffe, die ich dabeihatte. Ich wusste, dass Steven an diesem Abend länger arbeiten würde.”
“Um wie viel Uhr war das?”
“Ein paar Minuten nach sechs. Vielleicht viertel nach sechs.”
“Erzähl weiter.”
“Nur noch ein paar Meter trennten mich von der Galerie, als ich einen Mann aus der Eingangstür rennen sah.”
Matt wäre beinahe vom Sitz gesprungen. “Du hast jemanden gesehen und es nicht der Polizei erzählt?”
Sie schaute ihn mit kläglichem Blick an. “Ich konnte nicht.”
“Warum denn nicht? Wo du doch wusstest, dass es Dad hätte entlasten können!”
Sie sah plötzlich sehr klein und sehr verletzlich aus. “Deshalb nicht,”, flüsterte sie kaum hörbar, “weil der Mann Daddy war.”
“
Wie bitte
?”
“Ich habe seine Eagles-Jacke erkannt, die er immer zu den Spielen trägt. Und seine Eagles-Kappe.”
“Die Hälfte aller Männer dieser Stadt besitzen Eagles-Jacken und Eagles-Kappen.”
Sie schwieg.
“Hast du sein Gesicht gesehen?”
“Nein. Er ist in die entgegengesetzte Richtung gerannt.”
“Wie kannst du dann sicher sein, dass er es war?”
Sie drehte den Kopf und schaute ihn an. “Ich weiß es einfach.”
“Beschreibe ihn.”
Sie starrte ihn verwirrt an. “Du willst, dass ich Dad beschreibe?”
“Beschreibe den Mann, den du gesehen hast.”
“Nun, er sah genau wie Dad aus, die gleiche Größe, die gleichen breiten Schultern. Und er rannte schnell wie Dad.”
“Kleines, die Beschreibung trifft auf eine Menge Männer zu.”
“Und was ist mit dem Revolver? Ich habe ihn gesehen, Matt.”
“Was soll das heißen, du hast ihn gesehen?”
“Nachdem ich … Dad gesehen hatte,” das Wort ließ sie stolpern, “habe ich geahnt, dass etwas passiert war. Deshalb bin ich zur Galerie gegangen.” Sie schloss die Augen. “Die Tür stand auf, und inmitten einer Blutlache auf dem Boden sah ich Steven liegen. Als ich zurückwich, entdeckte ich am Rand des Blumenbeets den Revolver – Daddys Revolver. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, wohin ich gehen sollte. So vieles schoss mir gleichzeitig durch den Kopf. Die
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