Wo die Wahrheit ruht
ihr diesmal nichts aus. Es war schon lange her, dass sie einem Mann die Kontrolle überlassen hatte, und sie registrierte erstaunt, dass es sich sogar gut anfühlte.
“Ich rufe dich morgen früh an”, sagte Grace und umarmte Denise kurz. “Mach dir keine Sorgen, okay? Ich bin in guten Händen.”
Denise warf Matt einen langen Blick zu und flüsterte: “Dann geht nur, ihr beiden.”
“Möchten Sie Kaffee?”, fragte Grace, als sie ihre Jacke an die Garderobe hängte. “Eine Kaffeemaschine kann ich ziemlich problemlos bedienen.”
“Danke, gern, und während Sie mich mit Ihren Kaffeekochkünsten beeindrucken, werde ich uns ein Feuer anmachen. Einverstanden?”
Grace bezweifelte zwar, dass ein Feuer ihre innere Kälte vertreiben würde, aber schaden konnte es auch nicht. “Klingt gut, danke.”
Zehn Minuten später hatte sie sich vor das prasselnde Feuer gekuschelt, eine Tasse Kaffee in der Hand. “Der Anblick von Pastor Donnelly will mir nicht mehr dem Kopf”, sagte sie. “Es war grässlich, und … respektlos. Wie kann jemand nur einen Priester beim Beten erstechen?”
“Psychopathen tun die absonderlichsten Dinge, Grace. Es tut mir leid, dass Sie das alles mit ansehen mussten.”
“Wer wollte ihn umbringen? Und warum?”
“Wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem auch Steven umgebracht wurde. Möglicherweise hat er etwas über die Entführung von Felicia Newman gewusst. Und vielleicht sogar über den Mord an Steven.”
Es war eine denkbare Möglichkeit, aber keine realistische. “Es ist doch schwer zu glauben, dass ein Priester Einzelheiten über einen Mord erfährt, die einen Unschuldigen entlasten könnten, und diese Informationen dann für sich behält.”
“Priester stehen oft vor dem Dilemma, schwierige Entscheidungen treffen zu müssen. Ein abscheuliches Verbrechen zu verbergen, muss eine der schwersten Entscheidungen sein.”
“Was macht Sie so sicher, dass er etwas gewusst hat?”
“Bestimmte Einzelheiten ergeben langsam einen Sinn.”
“Wie was zum Beispiel?”
“Ich habe heute Ellie Colburn besucht …”
“Wer ist Ellie Colburn?”
“Dustys Mutter. Dusty ist der Mann, der wegen Felicias Entführung angeklagt wurde. Er wurde für schuldunfähig erklärt und lebenslänglich in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen.”
“Jetzt erinnere ich mich. Denise hat mir von ihm erzählt. Er hat seine Sprache verloren und konnte sich deshalb nicht verteidigen. Was haben Sie denn von seiner Mutter erfahren?”
Matt erzählte ihr von Pastor Donnellys regelmäßigen wöchentlichen Besuchen.
“Das ist doch eigentlich nichts Ungewöhnliches”, meinte Grace. “Ich stamme aus einer katholischen Familie, und ich erinnere mich sehr gut daran, welche Rolle unser Gemeindepfarrer im Leben seiner Schäfchen spielte. Er hat nicht nur die Messen zu allen bedeutenden Ereignissen gelesen, er wurde auch zu allen Feierlichkeiten eingeladen – Geburtstage, Hochzeiten, zum Weihnachtsfest, Thanksgiving. Auch er hätte Dusty weiterhin besucht, egal, welch weiten Weg er hätte auf sich nehmen müssen.”
“Hätte er auch gelogen, um Bernies Anwesenheit zu vertuschen?”
Grace zögerte. “Nein, ich glaube, das hätte er nicht.”
“Was also sagt uns das über Pastor Donnelly?” Als sie schwieg, fügte er hinzu: “Priester sind auch nur Menschen, Grace, und nicht so unfehlbar, wie wir es uns wünschen. Mit dieser Erkenntnis hat sich die Kirche in den letzten Jahren oft genug auseinandersetzen müssen.”
“Glauben Sie ernsthaft, dass er an einem Mord beteiligt gewesen sein könnte?”
“Vielleicht nicht direkt, aber er muss etwas gewusst haben – sonst wäre sein Leben nicht so plötzlich und so grausam beendet worden.”
“Und jetzt werden wir es niemals mehr erfahren”, sagte Grace leise. “Pastor Donnelly hat sein Wissen mit ins Grab genommen.”
“Vielleicht auch nicht.”
Sie warf ihm einen fragenden Blick zu.
“Da ist noch Bernie. Die Tatsache, dass er, nachdem er zwanzig Jahre lang keinen Fuß mehr in die Kirche gesetzt hat, plötzlich Donnelly aufsucht, sagt mir, dass er irgendetwas damit zu tun hat.”
Grace dachte einen Augenblick nach. “Wie alt war Bernie, als Felicia verschwand?”
“Dreizehn oder vierzehn. Soweit ich mich erinnere, war er einer von Pastor Donnellys engagiertesten Messdienern. Auch im Chor hat er gesungen.”
“Er und Pastor Donnelly müssen viel Zeit zusammen verbracht haben. Er hätte etwas aufschnappen können.”
“Durchaus
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