Wo die Wahrheit ruht
schlüpfte Grace in ihre Jacke. “Los, komm!”
Sie fuhren beim Rathaus vorbei und auch bei George Renchaws Anwaltskanzlei, doch beide Versuche waren vergeblich. Der Bürgermeister hatte sein Büro bereits um sechs Uhr verlassen, um sich für eine Aufführung von
Mame
im Theater von Bucks County umzuziehen.
Grace blickte auf die Uhr. “Schnell”, sagte sie zu Denise, während sie aus dem Gebäude eilten. “Es ist fünf vor acht; wenn wir uns beeilen, können wir ihn noch erwischen, bevor der Vorhang aufgeht.”
Denise musste rennen, um Schritt halten zu können. “Willst du mir nicht endlich sagen, was los ist? Ich schwöre, ich erzähle es keiner Menschenseele weiter.”
Sie sprangen in Denise' Toyota. “Ich erzähl's dir später. Fahr los!”
Denise wendete und steuerte den Wagen die South Main hinunter. “Da vorne ist es.” Sie deutete auf das rote Gebäude, das auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals lag. “Scheint ausverkauft zu sein. Hoffentlich können wir irgendwo parken.”
Nachdem sie den Parkplatz zweimal vergeblich umrundet hatte, verließ sie ihn wieder und fand einen halben Block vom Theater entfernt endlich eine Parklücke.
“Meine Mutter hat hier früher ehrenamtlich als Platzanweiserin gearbeitet”, sagte Denise, als sie über den Parkplatz rannten. “Vielleicht kenne ich jemanden, der heute Abend Dienst hat.”
“Denise”, ertönte eine raue Stimme. “Bist du es wirklich?”
Denise seufzte vor Erleichterung, als eine kleine, rundliche Frau mit kurzen weißen Haaren auf sie zusteuerte. “Sandra, Gott sei Dank, dass du heute hier bist. Ich muss dich um einen kleinen Gefallen bitten.”
“Wieso bist du so außer Atem?”
“Das ist eine lange Geschichte.”
Neugierig musterte Sandra erst einmal Grace. Offensichtlich war ihr die Dringlichkeit in Denise' Worten entgangen. “Sind Sie Grace McKenzie?”
Grace lächelte nervös. “Ja.”
“Ich habe gehört, dass sie den armen Bernie aus dem eiskalten Fluss gerettet haben …”
“Ich will nicht unhöflich sein, Sandra”, unterbrach Denise sie. “Aber ich muss mit Bürgermeister Renchaw sprechen.”
“Jetzt gleich?”
“Jetzt gleich.”
“Aber das Stück hat schon angefangen.”
“Das ist ein Notfall. Glaub mir, Sandra, wenn Bürgermeister Renchaw wüsste, dass ich vergeblich versuche, ihn zu erreichen, wäre er untröstlich.”
“Was für ein Notfall?” Sie blickte von Denise zu Grace hinüber. “Und warum bist du hergekommen und nicht einer seiner Mitarbeiter?”
“Weil es sich um eine private Angelegenheit handelt.” Sie senkte die Stimme. “Es geht um Leben und Tod, Sandra.”
Sandra fasste sich ans Herz. “Oh, Gott! Warum sagst du das nicht gleich?” Von der Dringlichkeit nun offenkundig überzeugt, nickte sie. “Ich geh und hole ihn, ihr wartet hier.”
“Danke.”
Keine halbe Minute später kam ein sichtlich verärgerter George Renchaw auf sie zu. “Anscheinend steht mein Haus in Flammen, Denise”, sagte er scharf. “Denn das ist der einzige Notfall, den ich für ernst genug erachte, den ersten Akt zu verpassen.”
Grace konnte nicht zulassen, dass er Denise ihretwegen Schwierigkeiten machte. “Das ist allein meine Schuld. Ich habe Denise praktisch gezwungen, mit mir herzukommen.”
“Das bezweifle ich zwar, aber fahren Sie fort. Um welchen Notfall handelt es sich?”
“Matt sitzt im Gefängnis, und der Polizeichef erlaubt ihm weder mit einem Anwalt zu sprechen, noch ein Telefonat zu führen. Sie sind der Einzige, der helfen kann.”
“Was hat Matt angestellt?”
“Cal Badger ist in die Polizeistation gestürmt und hat ihn angegriffen. Matt hat sich verteidigt, und Josh hat beide ins Gefängnis gesteckt.”
“Ist jemand verletzt?”
“Cals Nase ist gebrochen. Würden Sie bitte Josh Nader anrufen, Mr. Renchaw? Bitte? Wie gesagt, Matt hat sich nur verteidigt.”
“Kommen Sie, Ms. McKenzie. Sie wissen genau, dass ich mich nicht in Entscheidungen des Polizeichefs einmischen kann. Was glauben Sie, würden meine Wähler denken, wenn sie herausfänden, dass ich meine Freunde begünstige?”
“Oh, um Gottes willen, George”, sagte Denise. “Sehen Sie denn nicht, dass Josh einfach nur eine Ego-Nummer fährt? Wenn Sie sich solche Sorgen um Ihre Wähler machen, sollten Sie die Sache lieber noch einmal überdenken. Die Bürger von New Hope sind wegen Freds Verhaftung schon genug aufgebracht. Jetzt verhaftet Josh auch noch
ohne jeden triftigen Grund
seinen Sohn, und Sie
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