Wo die Wasser sich finden australien2
diesen Weg vor Monaten abgeritten war. Ein verblichenes Einwickelpapier möglicherweise, das ihm im Reiten aus der Hand gefallen war. Doch er sah nichts als einige verwehte Blätter in dem ausgetrockneten Unterholz des nach Regen hungernden Buschlandes. Am Berghang wuchsen die Bäume dicker und höher und waren dichter belaubt. Oben dünnte der Bewuchs wieder
aus, und die Landschaft war von eisigen, windgebeugten Schnee-Eukalyptusbäumen geprägt.
Harry hielt Ausschau nach braunem Fell und lauschte nach knackenden Zweigen. Seit Tom die trächtigen Kühe in den Busch getrieben hatte, in der Hoffnung, dass sie dort die Dürre überlebten, konnten die Tiere auf ihrer Suche nach Futter tief in die Taleinschnitte gewandert sein. Es war sogar möglich, dass sie auf die hohe Bergweide gewechselt hatten, um dort nach frischen grünen Schösslingen zu suchen, die durch den schmelzenden Schnee brachen. Die Kühe waren die einzige Herde, die nach der Dürre noch auf seinem Grund lebte. Es würde schwer, sie zu finden, und noch schwerer, sie ohne Hund zusammentreiben. Harry seufzte. Nach Toms Beerdigung hatte Rebecca Bessie, die letzte Hündin auf seiner Farm, mitgenommen.
Und zwar zu Recht, dachte Harry. Zu Recht. Voller Scham rief er sich den Tag ins Gedächtnis, an dem er volltrunken im Zorn zu seinem Gewehr gegriffen und alle Hunde an ihren Ketten abgeschossen hatte. Dann schüttelte er die grässliche Erinnerung an die blutend im Staub liegende Mardy aus seinem Kopf. Er musste stark bleiben, er musste Wiedergutmachung leisten. Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, wo die Rinder sein konnten. Mit Sicherheit waren sie nicht auf dieser Seite der Bergkette, nicht nach einer so schweren Dürre. Das hatte ihm sein Vater erklärt. Plötzlich spukte die Stimme des alten Mannes durch seinen Kopf.
»In einem guten Jahr findest du sie, wenn überhaupt, auf dem Nordhang. Aber wenn es trocken war, musst du in die Täler in Richtung Heaven’s Leap. Dann sind sie dort.«
»Glaub mir einfach, Junge«, hatte sein Vater immer gesagt. Harry rief sich die Zeit als kleiner Junge ins Gedächtnis. Wie er krampfhaft versucht hatte, nicht zu weinen, als sein Vater ihn auf einen riesigen Ackergaul gesetzt hatte. Sein Vater hatte nur gelacht.
»Ich sehe schon, du bist kein großer Rinderhirte, Junge.« Sein Vater war gnadenlos gewesen. So gnadenlos. Noch heute spürte Harry bisweilen einen Kloß in der Kehle, wenn er daran dachte, dass sein Vater für seinen alten Hund und seine Pferde mehr Gefühl gezeigt hatte als für seinen Sohn. Als junger Mann hatte Harry mit einem ganzen Cocktail von Emotionen seinem Vater gegenüber gekämpft —Bewunderung, Liebe, Hass und Verzweiflung, alles in einem wirren Mischmasch vermengt. Gepeinigt von Schuldgefühlen, erkannte Harry, dass er dieses Muster bei seinen Kindern wiederholt hatte. Kein Wunder, dass Tom dabei unter die Räder geraten war. Wenn ihm sein Vater nur beigebracht hätte, wie man liebt. Harry spuckte aus und ritt weiter.
Er hatte vor, die Nacht in der Hütte zu verbringen und morgen in aller Frühe auf die Hochebene zu reiten. Womöglich würde er Wochen brauchen, um die Rinder zu finden. Er richtete sich im Sattel auf und merkte, wie seine Rückenmuskeln zu kribbeln begannen und seine Hüften unter Schmerzen knackten. Inzwischen wünschte er sich, er hätte eine Flasche Whisky eingesteckt. Doch er wusste, dass er trocken bleiben musste. Dass er sich nicht treiben lassen durfte.
Im Reiten sann er über seine Kinder nach. Normalerweise hatten sie die frei grasenden Tiere zusammengetrieben. Tom und Rebecca. Sie waren die Tierexperten gewesen, die wahren Erben seines Dad, dachte Harry. Seines Dad, dieses alten Bastards.
Einen halben Kilometer vor der Hütte begannen fette Regentropfen auf Harrys Hutkrempe zu schlagen und Ink Jets Fell zu durchtränken, bis sie winzige Rinnsale bildeten, die an den Beinen abwärts zu den Fesseln rannen. Durch den Regenschleier hindurch sah er die Hütte stehen. Aus dem Kamin stieg Rauch auf. Tom hatte Feuer gemacht.
Doch als er näher kam, erkannte er, dass es kein Rauch war. Nur ein Nebelschleier.
Sobald er Ink Jet den Sattel abgenommen hatte, drückte sie den Schweif gegen die Wand des Schuppens und ließ sich beregnen. Sie legte die Ohren an, während der Regen den trockenen Fleck nässte, auf dem der Sattel gelegen hatte.
Harry ließ den Sattel auf die Veranda fallen, nahm Hut und Mantel ab und hängte beides an einen Nagel. Die Tür war mit
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