Wo immer Du bist, Darling
verlor sie mehr und mehr an Gewicht. Carolin ahnte, dass das passive Warten härter an ihr zehrte, als die Wochen in der Wildnis es je vermocht hätten.
*
Die Nachricht, dass Lacey zu dreißig Jahren Haft verurteilt und unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde, schlug in Anjas kleiner Truppe wie eine Bombe ein.
Anja wusste, wie viel es Ramon bedeuten musste, dass Warren Lacey endlich seine gerechte Strafe erhalten hatte. So positiv diese Tatsache auch war, gab es dennoch keine Anhaltspunkte, inwieweit der aufgerollte Mordfall mildernden Einfluss auf Ramons Verurteilung haben würde.
Die Zeit bis zum Gerichtstermin schien sich endlos auszudehnen und Anja durchlebte ein Wechselbad der Gefühle. Angst, Hoffnung, Kummer und die allgegenwärtige Anspannung bestimmten ihr Fühlen so sehr, dass ihr die glücklichen Tage mit Ramon in der Hütte wie ein längst vergangener, kostbarer Traum vorkamen. Unaufhörlich peitschten die gleichen Fragen durch ihren Kopf, ließen sie nicht zur Ruhe kommen, bis sich alle Überlegungen einem Karussell gleich in ihrem Kopf drehten.
Drei Tage vor Verhandlungsbeginn trafen sie sich mit Ramons Pflichtverteidiger zu einem Gespräch. Shepard hatte ihnen den Verhörraum im Polizeirevier zur Verfügung gestellt, damit sie ungestört reden konnten. Anja blickte nervös zu dem blonden Mann im Anzug, der ihr gegenüber Platz nahm. Von seinem Geschick würde alles abhängen. Carolin und Oliver setzten sich auf die Stühle rechts und links neben ihr, als wollten sie ihr auf diese Weise signalisieren, dass sie sie von allen Seiten unterstützten. Anja atmete tief durch. Im Grunde taten sie das schon die ganze Zeit, allein durch ihre Anwesenheit.
»Danke, Mr. Fowler, dass Sie sich zu diesem Gespräch bereit erklärt haben«, sagte sie. »Ich gehöre nicht zu Ramons Angehörigen, daher ist das bestimmt keine Selbstverständlichkeit.«
»Das ist in Ordnung. Ich kann verstehen, dass Sie sehr viele Fragen haben, Miss Zimmermann.« Timothy Fowler öffnete seine Aktentasche und nahm eine beunruhigend dicke Akte heraus. »In der vorliegenden Strafsache verhandeln wir ein Zusammentreffen verschiedener Delikte und hören Zeugenaussagen im Rahmen der Beweisaufnahme. Dadurch lässt sich der Verlauf des Prozesses leider nur bedingt vorhersagen.«
»Welchen Einfluss kann ich als Zeugin denn auf das Strafmaß nehmen?«, fragte sie geradeheraus.
»Normalerweise einen erheblichen , wenn Sie den Angeklagten durch Ihre Aussage entlasten. Im vorliegenden Fall allerdings …« Fowler öffnete mit einem bedauernden Blick die Akte. »… bleibt in der Schuldfrage durch Mr. Peréz’ Geständnis nicht sehr viel Spielraum.«
»Können Sie uns den Inhalt der Anklageschrift mitteilen?«, schaltete sich Oliver ein.
Folwer nickte und blätterte in seinen Unterlagen. »Die Staatsanwaltschaft erhebt gegen Mr. Peréz aufgrund ihrer Ermittlungen folgende Anschuldigungen: Entführung und schwerer Raub unter Mitwirkung eines Bandenmitglieds am 30.08.2007 im Kellerman’s Drugstore, Mariposa. Einbruchdiebstahl in Tateinheit mit Urkundenfälschung am 13.11.2006 im Johnson Car Sale, Fresno …
Anja hielt den Atem an, als Fowler Punkt für Punkt vorlas. Obwohl Ramon bei vielen Delikten nur als Mittäter gehandelt hatte, war es entmutigend, wie viele Anschuldigungen das Dokument enthielt, auch wenn es wenigstens die beiden Morde nicht umfasste. Im Stillen dankte sie Chief Shepard dafür, dass er durch einen Fingerabdruckvergleich inzwischen Ramon als Täter ausgeschlossen hatte. Trotzdem blieben noch genug Delikte für eine langjährige Haftstrafe übrig, nicht zuletzt ihre Entführung.
»Wie hoch kann die Strafe bei den zur Last gelegten Anschuldigungen denn ausfallen?«, fragte Carolin, nachdem der Pflichtverteidiger geendet hatte.
»Das hängt im Einzelnen vom Richter ab. Es wird sicher eine Rolle spielen, dass Mr. Peréz zugegeben hat, neben seinem Bruder Anführer der Organisation gewesen zu sein. Wenn man dagegen berücksichtigt, dass er Miss Zimmermann zur Flucht verholfen hat …« Er schwieg einen Moment. »Möglicherweise wird sich das Strafmaß im Bereich von zehn Jahren bewegen, aber diese Angabe ist alles andere als verbindlich«, schränkte er sofort ein.
»Ich verstehe.« Anja schluckte hart. Oliver hatte sie davor gewarnt, dass Ramon nach Santos’ unvorhersehbarem Tod der Einzige blieb, den die Behörden der Öffentlichkeit gegenüber für die Verbrechen von La Mano de Cuba zur Rechenschaft ziehen
Weitere Kostenlose Bücher