Wo immer Du bist, Darling
nicht schon wieder Urlaub nehmen. Außerdem fehlten viele Kollegen und jede Hand wurde gebraucht. Gott sei Dank gehörte Richard ebenfalls zu den Urlaubern, so konnte sie sich wenigstens frei bewegen.
Der enorme Umtrieb auf der Station und die ständig wechselnden Tätigkeiten hielten sie auf Trab. Trotzdem begleitete sie der Schmerz über Ramons Abwesenheit weiterhin jeden Tag und jede Nacht. Sie hatte immer noch keine Antwort von ihm erhalten. Langsam verursachte diese Tatsache ein flaues Gefühl in ihrem Magen. Selbst, wenn sie die Feiertage einkalkulierte und die Möglichkeit in Betracht zog, dass Ramon vielleicht nicht täglich Post versenden durfte, hätte seine Nachricht sie inzwischen erreichen müssen. Immer häufiger stellte sie sich die furchtbare Frage, ob ihre Zuschriften überhaupt bei ihm angekommen waren.
Es war das Wissen um ihr gemeinsames Kind, das sie in diesen bangen Momenten wieder aufrichtete.
Wenn Marlenes Prognose stimmte, bekamen sie einen Sohn. Irgendwie war sie überzeugt davon, dass er viel Ähnlichkeit mit seinem Vater besitzen würde. Wie es wohl sein würde, einen kleinen Ramon um sich zu haben? Lächelnd schaltete sie die Stereoanlage ein und streichelte ihren Bauch.
Obwohl sie sich zwischenzeitlich im vierten Schwangerschaftsmonat befand, fühlte sie sich blendend. Die weite Schwesternkluft verbarg effektiv, dass sich ihr Bauch langsam rundete.
Noch immer wusste im Krankenhaus niemand von ihrer Schwangerschaft. Was diese Neuigkeit bei ihren Kollegen auslösen würde, konnte sie sich bildhaft vorstellen, auch die Spekulationen bezüglich ihrer Geiselnahme, die unweigerlich darauf folgen würden. Sie seufzte leise und suchte ein leeres Blatt Papier aus der Schublade.
Weil sie Marlene versprochen hatte, nicht länger als unbedingt nötig zu arbeiten, musste sie sich rechtzeitig Gedanken machen, wem sie ihre freiwillige Tätigkeit in einem kleinen Altenheim übertragen konnte. Am besten jemandem, der diese Aufgabe für die nächsten Jahre übernehmen konnte.
Kopfschüttelnd dachte sie daran, dass sich ihr Leben bisher nur auf ihren Beruf konzentriert hatte. Das würde sich ändern, wenn sie ihren Sohn zur Welt gebracht hatte. Sie summte ein Lied aus dem Radio mit und begann, eine Liste mit infrage kommenden Personen zu erstellen.
Als sie gerade den dritten Namen notierte, begann eine Reportage über den Naturpark von Santiago de Cuba. Sofort schnappte sich Anja die Fernbedienung und stellte die Stereoanlage lauter. Nicht weit entfernt davon war Ramon aufgewachsen …
Unversehens kamen ihr wieder die Tränen. Am liebsten wäre sie ins Flugzeug gestiegen und in die USA geflogen, allen widrigen Umständen zum Trotz. Sie vermisste Ramon noch genauso wie am ersten Tag. Es war einfach nicht gerecht, dass sie ihn nicht besuchen durfte.
Frustriert schaltete sie die Stereoanlage aus und bereitete sich einen Tee zu. Die Unmöglichkeit, etwas an der Situation ändern zu können, setzte ihr schwer zu. Unvermittelt dachte sie an ihre Großmutter. Langsam konnte sie nachvollziehen, wie schlimm es für diese Frauen gewesen sein musste, ihre Männer in den Krieg ziehen zu lassen.
Sie saß immer noch traurig da, als Carolin aus Hamburg anrief.
*
»Ist etwas mit dem Baby passiert?« Carolin presste erschrocken das Handy ans Ohr. Trotz des Lärms im Hotelzimmer nebenan konnte sie deutlich hören, wie unglücklich ihre Freundin klang.
»Nein. Alles bestens«, antwortete Anja. »Es ist nur …« Sie brach ab. Sogar durch das kleine Mobiltelefon war ihr Seufzen deutlich zu hören.
Carolin ließ sich rückwärts aufs Bett fallen. »Du hast immer noch nichts von Ramon gehört, nicht wahr?«
»Nein. Langsam macht mich das echt verrückt.« Anja schwieg einen Moment. »Und, was tust du gerade? Freust du dich auf Oliver?«
»Mehr, als gut für mich ist.« Nun war es an Carolin, inbrünstig zu seufzen. »Wenn du hier wärst, würdest du bestätigen, dass du mich nie nervöser erlebt hast. Ich habe meine Tasche für Berlin schon dreimal umgepackt, dabei bietet der Inhalt meiner Reisetasche wahrlich keine große Auswahl. Irgendwie stehe ich zehn Meter neben mir, seit er vorhin angerufen hat.«
Sie redete fast eine halbe Stunde mit Anja. Aber erst, nachdem sie das Gespräch beendet hatte, wurde ihr bewusst, was ihre Freundin ihr im Verlauf des Telefonats schonend hatte beibringen wollen. Sie war dabei, sich in ihren steifen Anzugträger zu verlieben. Diese Tatsache hätte sie erstarren
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