Wo immer Du bist, Darling
eigensinnig gerecktes Kinn. »Gut. Wenn du willst, kannst du die ganze Nacht da stehen bleiben. Ich werde versuchen, zu schlafen.« Er legte sich hin und drehte ihr plakativ den Rücken zu.
*
Anja musterte seine abweisende Rückseite. So ein unverschämter Kerl! Sie wartete zwei Sekunden. Er bewegte sich nicht, auch nicht nach zwei Minuten. Vermutlich schlief er längst tief und fest.
Weil es keinen Sinn ergab, ihn für den Rest der Nacht wütend anzustieren, löste sie den Blick von seiner langen Gestalt und beäugte stattdessen den Wald. Unbeobachtet von seinen wachsamen Augen, hatte sie zum ersten Mal die Gelegenheit, sich trotz der Dunkelheit gründlich umzusehen. Eigentlich war dies der ideale Moment, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Nur wohin?
In den Satteltaschen nach einer Karte zu suchen, konnte sie sich sparen. Es gab keine – allenfalls in Ramons Kopf. Und selbst wenn sie eine gefunden und in einem sicheren Versteck auf den Tagesanbruch gewartet hätte, fehlte ihr jedwede Information, wo genau sie sich befanden.
Sie blickte wieder zu Ramon. Nicht einmal der größte Freiheitsdrang wog die Tatsache auf, dass sie ohne seine Hilfe in dieser Wildnis verloren war. Vielleicht sollte sie ihm tatsächlich vertrauen. Bisher hatte er ihr jedenfalls keinen Grund gegeben, an seinen Worten zu zweifeln. So verrückt es auch klingen mochte, aber in dieser Situation war Ramon der beste Begleiter, den sie sich wünschen konnte.
Da ihr nichts anderes übrig blieb, stapfte sie zurück auf das Lager und legte sich in größtmöglichem Abstand neben ihn.
Trotz ihrer Entscheidung, sich auf ihren schweigsamen Führer zu verlassen, dauerte es ziemlich lange, bis sie endlich einschlief.
Kalifornien, Sierra Nevada, 03.09.2007, 06:35 Uhr
»Aufwachen, Schlafmütze!«
Anja öffnete die Augen und blinzelte in den rötlich verfärbten Morgenhimmel. Sie fühlte sich, als wäre sie erst vor einer Stunde eingeschlafen.
Schwerfällig wie eine Achtzigjährige kämpfte sie sich in eine sitzende Position. Ihr Blick blieb an einer Tasse mit heißer brauner Flüssigkeit hängen, die Ramon unter ihrer Nase schwenkte. Überrascht sah sie zu ihm auf, dann griff sie gierig nach dem Gefäß.
»Ich kann es nicht glauben. Kaffee?« Ihr Blick fiel auf einen kleinen Gaskocher neben ihrem Lager.
»Ja, obwohl du eigentlich keinen verdient hast.«
Sie schnitt eine Grimasse hinter seinem Rücken, als er sich umdrehte und die Satteltaschen öffnete. Routiniert rollte er die Decken ein.
Anja stand auf und machte ihm Platz. Während sie mit beiden Händen den wärmenden Becher umschlossen hielt, betrachtete sie sein Profil. Wie konnte er um diese gottlose Tageszeit nur so gut aussehen?
Sie gab es nicht gern zu, aber Ramon war ein wirklich attraktiver Mann. Er hatte sich rasiert und die tiefschwarzen Haare zurückgestrichen, was sein kantiges Gesicht und die außergewöhnlichen Augen noch mehr betonte. Das Lächeln, mit dem er sie gestern Abend bedacht hatte, hatte ihr unfreiwillig bewusst gemacht, wie anziehend ihr Retter war.
Im Geiste verglich sie Ramon mit Richard. Welch ein Unterschied!
Außer dem Anfangsbuchstaben ihrer Namen hatten die beiden absolut nichts gemein. Ihr Exverlobter nahm sich neben diesem männlichen Prachtexemplar wie ein pubertärer Schuljunge aus.
Zwangsläufig versuchte sie zu ergründen, wodurch Ramons maskuline Ausstrahlung zustande kam. Es lag nicht nur an seinem Äußeren. Es lag auch an seinem geheimnisvollen Wesen, an der selbstsicheren Art, mit der er die Dinge anpackte und zielgerichtet immer genau zu wissen schien, wie er handeln musste. Bestimmt war dieser Eindruck auch der Grund, warum sie sich sofort bereit erklärt hatte, mit ihm die Hütte zu verlassen.
Inzwischen hatte Ramon die Decken eingewickelt und kam auf sie zu. Er schnippte ungeduldig mit den Fingern vor ihren Händen und machte Anstalten, nach der Tasse zu greifen.
Schnell brachte sie den Blechbecher samt seinem kostbaren Inhalt aus seiner Reichweite. » Moment, bin gleich fertig.«
Er trat einen Schritt zurück. »Beeil dich. In schätzungsweise ein, zwei Stunden ist uns Santos mit seinen Männern auf den Fersen. Bis dahin müssen wir unseren Vorsprung nutzen.«
Hastig kippte sie den Kaffee hinunter. Er hatte recht. Nur, weil sie mit ihm hier draußen war, befanden sie sich noch lange nicht außer Gefahr. Sie schauderte. Was Santos wohl mit Ramon anstellen würde, wenn er herausfand, dass sein Bruder mit der
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