Wo immer Du bist, Darling
denn das sein?«
Er zuckte mit den Schultern. »Unwetter, Hochwasser, da gibt’s tausend Möglichkeiten.«
Sie beäugte erst die verwitterte Holzkonstruktion zu Ramons Füßen, dann den respektablen Fluss, der, von steilen Felswänden eingefasst, einige Meter unter ihnen rauschte. Das Ganze erinnerte an eine Wildwasserbahn. Keine angenehme Vorstellung, wenn man bedachte, dass sie offenbar auf die andere Seite mussten. »Wie weit ist es denn bis zur nächsten Brücke?«
Seine angespannte Miene verhieß nichts Gutes. »Es gibt keine andere Brücke«, sagte er ruhig, ohne sie anzusehen.
Die Worte fielen wie Handgranaten in ihr Bewusstsein. »Es gibt keine? Bist du sicher?« Einen Moment hegte sie die absurde Hoffnung, er würde zugeben, nur gescherzt zu haben. Leider tat Ramon nichts dergleichen. Stattdessen nickte er knapp.
»Aber … wie kommen wir denn jetzt über den Fluss?«
Er drehte sich um und sah ihr unverblümt in die Augen.
Sie hob abwehrend die Hände. »Nein. Nein! Das kann nicht dein Ernst sein!« Krampfhaft suchte sie nach einer Lösung, die nicht glatten Selbstmord versprach. Ihr wollte keine einfallen.
Ramon machte derweil kehrt und nahm das robuste Seil vom Sattelknauf. »Entweder, wir überqueren den Fluss, oder wir warten hier, bis Santos kommt.«
»Aber gibt es nicht eine etwas … ruhigere Stelle, die wir passieren können?«
Er zeigte mit den Daumen hinter sich. »Das ist die ruhigste Stelle.«
Wie in Trance wich sie vor der Schlucht zurück. Was sie auch versuchte, die Fähigkeit, den Blick von dem unheilvollen Abgrund zu lösen, war ihr abhandengekommen.
Als Ramon ihre geschockte Reaktion bemerkte, kam er auf sie zu und legte beide Hände auf ihre Schultern. »Wir schaffen das, okay? Wir müssen nur einen Überweg bauen und schon sind wir drüben. Das ist ein Kinderspiel. Wirklich, das ist keine große Sache«, versuchte er, sie zu beruhigen.
Anja schüttelte gleich mehrmals den Kopf. »Nein, das stimmt nicht. Und das weißt du genau. Ich habe so etwas noch nie gemacht. Ich weiß überhaupt nicht, was ich tun soll!«
»Uns bleibt keine andere Wahl.« Ramon strich ihr eine Locke aus dem Gesicht.
Sie registrierte diese ungewöhnliche Geste nur am Rande, weil sie schreckensstarr zusah, wie er sich abwandte und mithilfe des Pferdes einen umgestürzten Baum zum Fluss schleifte. Danach suchte er einen massiven, abgebrochenen Ast und befestigte das Seil daran. Er warf den improvisierten Anker über die Schlucht und zog ruckartig daran, bis sich das Holzstück zwischen den rauen Felsen verkeilt hatte. Das freie Ende des Seils verknotete er an einem Baum.
Anja kam ihm zu Hilfe, als er unter enormem Kraftaufwand den Baum senkrecht aufstellte. Ramon neigte den Stamm in Richtung Schlucht und auf sein Zeichen hin ließen sie beide los.
Der Baum landete mit einem lauten Krachen auf einem Felsvorsprung über dem knapp vier Meter breiten Canyon, rollte ein Stück und blieb dann liegen.
Ramon klopfte sich den Schmutz von den Händen. »Das wäre geschafft.«
»Was ist mit dem Pferd?« Anja deutete hinüber.
»Das lassen wir zurück. Geht nicht anders.« Er sattelte das Pferd ab, gab ihm einen Klaps auf die Flanke und hängte sich die Satteltaschen mit dem Gewehr und der Ausrüstung über die Schultern.
Während sie sich noch fragte, wie er mit dieser Last bepackt das Gleichgewicht halten wollte, stieg er schon behände auf den Felsvorsprung und setzte einen Fuß auf den Stamm.
Plötzlich schnürte ihr die Angst, er könnte in die Schlucht fallen, derart die Luft ab, dass sie alle Zurückhaltung vergaß.
»Warte!« Hastig streckte sie die Arme aus und krallte sich an seinem Gürtel fest.
*
Ramon drehte sich verwundert zu Anja um. Sie hatte ihn noch nie impulsiv angefasst, schon gar nicht an der Hose.
Als er das blanke Entsetzen in ihren Augen sah, ging er in die Hocke. Seltsam berührt von ihrer untypischen Anhänglichkeit, nahm er vorsichtig ihr Gesicht in beide Hände. »Keine Angst, querida. Ich lass dich nicht zurück.« Eindringlich hielt er ihren Blick. »Der Stamm kann uns nicht gleichzeitig tragen. Ich werde vorausgehen und das Seil auf der anderen Seite anheben, damit du dich daran festhalten kannst.«
»Okay«, krächzte sie und schluckte schwer.
Ramon erkannte deutlich, wie krampfhaft sie die aufsteigenden Tränen zurückblinzelte. Versuchsweise kreuzte er mit den Fingerspitzen ihre Wangenknochen und streichelte sanft ihre Schläfen. Als er spürte, dass die
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