Wo immer Du bist, Darling
er. Unbestreitbar, denn seine Miene veränderte sich und sie ahnte, dass er geistig in die Vergangenheit zurückreiste. Gespannt legte sie sich neben ihn, ließ ihm Zeit und Freiraum, von selbst weiterzusprechen.
»Meine Mutter hat damals auf dem amerikanischen Stützpunkt in Guantanamo gearbeitet. Sie gehörte zum Kantinenpersonal. Sie war eine wunderschöne und herzensgute Frau. Mein Vater hat sie sehr geliebt. Wir alle haben das.«
Er verstummte. Anja erkannte am raschen Pulsschlag unter seiner Haut, wie aufgewühlt er war. Eine beunruhigende Vorahnung beschlich sie. Er hatte von seiner Mutter in der Vergangenheit gesprochen … Im Zusammenhang mit den Narben schien es plötzlich naheliegend, dass sie nicht bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Etwas weitaus Schlimmeres musste passiert sein. Etwas, das Ramon bis jetzt tief in sich verschlossen hatte.
Sie erinnerte sich daran, wie sehr sie der Tod ihrer Eltern belastet hatte, aber sie hatte ihre Großmutter gehabt und oft mit ihr darüber gesprochen. Er hatte niemanden gehabt, wurde ihr schlagartig klar.
Sie hob den Arm und strich ihm liebevoll die Haare aus der Stirn.
Ramon drehte sich auf die Seite und nahm ihre Hand. Anja verschränkte ihre Finger mit seinen, erwiderte den sanften Druck. Die vertraute Geste ließ Zuversicht durch ihn strömen. Der Wunsch, sich alles von der Seele zu reden, endlich Licht in die Düsternis seiner Kindheit zu bringen, wurde schier übermächtig. Es war an der Zeit, die schmerzlichen Erinnerungen aus dem tiefen Schlamm der Vergangenheit zu graben.
»Meine Mutter hatte seit Geburt einen Herzfehler und brauchte mehrmals täglich ihre Medikamente«, nahm er, ruhiger geworden, den Faden wieder auf. »An jenem Tag war sie spät dran, weil sie lange bei Santos gewacht hatte. Er war am Abend zuvor vom Pferd gefallen. In der Eile, trotzdem noch rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, hat sie die Medikamente auf dem Küchentisch vergessen.
Ich bin mit dem Bus zur Basis gefahren, um sie ihr zu bringen. In der Kantine hat man mir gesagt, dass sie zum Lager gegangen sei, weil sie Vorräte holen wollte. Also bin ich ebenfalls dorthin gelaufen.
Normalerweise war dort kein Mensch außer dem Verwalter, aber an dem Tag war noch dieser Offizier Warren Lacey da. Er hatte einen Arm um meine Mutter gelegt und versuchte immer wieder, sie zu küssen. Sie wollte das nicht, hat sich gewehrt. Aber der miese Dreckskerl hat sie nicht losgelassen.« Er brach ab. Verbittert presste er kurz die Lider zusammen, dann sah er Anja wieder an.
*
Anja entgegnete betroffen seinem Blick. Zum ersten Mal, seit sie Ramon kannte, glitzerte Hass in seinen grünbraunen Augen.
»Ich habe mich auf ihn gestürzt. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihn umgebracht. Als er mich kommen sah, hat er meine Mutter zur Seite gestoßen und seine Pistole gezogen.«
Sie schraubte die Finger fester um seine. Ramon hatte als Junge einen erwachsenen Mann, einen bewaffneten Soldaten angegriffen. Wie das ausgegangen war, konnte sie sich vorstellen. Sie streckte den freien Arm aus und umfasste seinen Nacken, musste ihn einfach mit beiden Händen berühren. »Was ist dann passiert?«
»Ich war schneller.« Ramon klang so ungläubig, als könnte er diese Tatsache selbst noch nicht fassen. »Bevor er abdrücken konnte, war ich an ihm dran. Ich habe ihm die Nase und zwei Rippen gebrochen, ehe ich seine Faust zu spüren bekam. Ich danke Santos heute noch dafür, dass er sich immer mit mir geprügelt hat, das hatte mich abgehärtet. Ich glaube, ansonsten hätte Lacey mich einfach totgeschlagen.
Thaddeus Baker, der damalige Lagerverwalter, ist dazwischengegangen. Er hat Lacey festgehalten, während meine Mutter mich weggezogen hat. In meinem ganzen Leben habe ich nie wieder einen Menschen so sehr gehasst wie Lacey in diesem Moment.
Obwohl er meine Mutter belästigt hat, verachtete er uns Kubaner. Er hatte auch was gegen Schwarze und Mexikaner, im Grunde gegen jede Hautfarbe, die nicht blütenweiß war. Er betrachtete uns als minderwertigen Abschaum, der keine Rechte, keine Würde hatte. Dass jemand wie ich es gewagt hatte, ihn anzugreifen, ließ ihn ausrasten.
Baker konnte ihn nicht lange bändigen. Lacey hat ihn zur Seite gestoßen, seine Waffe auf mich gerichtet und abgedrückt.«
Anja keuchte geschockt. Tränen liefen über ihr Gesicht, während sie in völliger Fassungslosigkeit seinen Worten lauschte.
»Meine Mutter hat sich schützend vor mich geworfen. Die Kugel
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