Wo immer Du bist, Darling
ausgelaugt, in einen totenähnlichen Schlaf.
Mit steifen Gliedern wachte Anja am nächsten Morgen auf. Im Schlaf hatten sich ihre Finger unbewusst um Ramons kleine Holzfigur geklammert, die sie in der Hosentasche bei sich trug.
Anja brauchte erschreckend lange, bis sie es schaffte, ihren erstarrten Griff von der Schnitzerei zu lösen.
Andächtig folgte ihr Blick den feinen Konturen von Ramons Arbeit. Die Worte, die er dazu gesagt hatte, hallten durch ihren Kopf. Aber auch ohne die Schnitzerei würde sie sich ewig daran erinnern. Sie würde Ramon nie vergessen.
Trotzdem gab ihr die kleine Holzfigur Kraft. Langsam, wie in Zeitlupe, gelang es ihr, wieder auf die Füße zu kommen. Sie stellte das geschnitzte Opossum gut sichtbar auf die Ablage und entkleidete sich.
Nach der Dusche fühlte sie sich zumindest körperlich besser. Sie war gerade dabei, sich anzuziehen, als jemand an die Tür klopfte. Ein kurzer Blick auf die Uhr bestätigte, dass es Zeit war, das Revier aufzusuchen. Vielleicht ergab sich ja eine Möglichkeit, Ramon zu sehen …
Bei diesem Gedanken kehrte Leben in ihre abgestorbenen Sinne zurück.
»Moment, bitte!«, rief sie und streifte sich eine der beiden Jeans aus der Reisetasche über die Hüften. Nach den entbehrungsreichen Wochen war ihr ihre alte Größe zu weit, aber das kümmerte sie nicht. Sie schlüpfte in ein neues Paar Stoffschuhe und öffnete die Tür.
Officer Willow stand davor und betrachtete sie aufmerksam. »Guten Morgen, Miss Zimmermann. Hoffentlich hatten Sie eine gute Nacht. Wenn Sie fertig sind, dürfen Sie mich zum Departement begleiten, wir müssen noch Ihre Aussage aufnehmen.«
Anja nickte. »Ich bin so weit.«
Nur wenige Minuten später stiegen sie vor dem Steingebäude aus dem Streifenwagen. Hastig suchte Anja die Fassade nach vergitterten Fenstern ab. Ob Ramon sie sehen konnte? Leider hatte sie nicht den Hauch einer Ahnung, wo er sich aufhielt.
»Er ist im Zellenblock hinten«, sagte die Mexikanerin, die Anjas Blicke richtig deutete.
Anja sah die Frau flehend an. »Darf ich ihn kurz sehen, bitte?«
»Es tut mir leid, aber das geht nicht.« Officer Willows Miene bekam einen mitfühlenden Schimmer. »Sie hegen starke Gefühle für ihn, nicht wahr?«
Anja blinzelte gegen die Tränen an und nickte erstickt.
»Sie dürfen zwar nicht zu ihm, aber wenn Sie wollen, kann ich ihm etwas von Ihnen ausrichten. Er hat heute Morgen ständig nach Ihnen gefragt.«
»Sie haben ihn gesehen?« Sofort begann Anjas Herz aufgeregt zu pochen . »Wie geht es ihm? Was macht sein Bein?«
»Es geht ihm gut. Gestern Abend hat sich ein Arzt seine Wunde angesehen. Sie haben ganze Arbeit geleistet, Miss Zimmermann. Dr. Marshall sagte, dass außer einer Narbe nichts zurückbleiben wird.«
Sie schwankte vor Erleichterung. »Gott sei Dank!«
Die Mexikanerin legte ihr stützend eine Hand um den Ellbogen. Anja atmete tief durch und nickte ihr dankbar zu. »Würden Sie ihm bitte sagen, dass ich ihn furchtbar vermisse? Und sagen Sie ihm, dass ich ihn liebe. Würden Sie das tun?« Ihre Stimme erstarb in einem Flüstern.
»Das werde ich«, antwortete die Frau einfühlsam und geleitete sie am Arm in das Gebäude.
Chief Edward Shepard erwartete sie bereits.
Höflich bot er ihr einen Stuhl und ein Brownie an.
Den Stuhl nahm Anja an, lehnte das Gebäck aber ab. Ihr Magen war seit den gestrigen Erlebnissen dermaßen zugeschnürt, dass ihr schon bei dem Gedanken an Essen sofort übel wurde .
Nachdem sie sich gesetzt hatte, schlug der Sheriff eine vor ihm liegende Akte auf. »Beginnen wir am Tag Ihrer Entführung. Bitte schildern Sie mir, was passiert ist, nachdem Sie den Store von Mr. Kellermann verlassen haben.«
Anja berichtete stockend von ihren Erlebnissen der letzten Wochen. Sie betonte deutlich, dass es Santos Idee gewesen war, sie zu entführen. So genau wie möglich versuchte sie, den Weg zur Hütte der Organisation wiederzugeben. Sie ließ nichts aus, sprach beherrscht und ruhig, auch wenn ihr des Öfteren Tränen über die Wangen liefen . Immer wieder erwähnte sie, dass sie ohne Ramon nicht überlebt hätte.
»Nun gut. Dass Mr. Peréz Ihnen geholfen hat, zu fliehen, wird sich sicher etwas strafmildernd auswirken.« Shepard lehnte sich zurück und klopfte mit dem Bleistift auf seine Notizen. »Trotzdem muss er sich für mehrere bewaffnete Überfälle und Anschläge verantworten«, fuhr er fort. »Außerdem gibt es zwei ungeklärte Morde, die in Zusammenhang mit der Organisation stehen,
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