Wo ist Thursday Next?
hatten, an ihr zu arbeiten. Das war die Kehrseite der Feedback-Schleifen: Ohne Rücksicht darauf, wie sie früher tatsächlich ausgesehen hatte oder aussehen wollte, war sie jetzt eine präraffaelitische Schönheit mit einem silbernen Stirnreif, fließenden weißen Gewändern und langen flachsblonden Locken. Sie war nicht die Einzige, die völlig von den Erwartungen der Leserinnen und Leser geprägt worden war.Miss Havisham war durch die LeserErwartung auf Dauer zur alten Jungfer geworden, ob es ihr passte oder nicht, und Sherlock Holmes musste für immer mit Pfeife und diesem komischen Hut herumlaufen. Das Problem beschränkte sich aber keineswegs auf die Klassiker. Harry Potter war auch stinksauer, weil er den Rest seines Lebens wie Daniel Radcliffe aussehen musste.
»Einen schönen guten Abend, Mylady«, sagte ich und machte einen Knicks. »Ich würde meine Studien gern fortsetzen.«
»Solcher Pflichteifer verdient Bewunderung«, erwiderte die Lady. »Wie steht’s denn mit Eurer Leserate?«
»Über tausend«, sagte ich, was eine spektakuläre Lüge war. Aber wenn ich nicht so getan hätte, als ob ich erfolgreich wäre, hätte sie mir kaum Zugang gewährt.
»Das sind ja erfreuliche Neuigkeiten. Nutzt Eure Zeit«, sagte sie. »Ich könnte eine Menge Ärger kriegen, wenn das herauskommt.«
Sie legte ihre Tapisserie beiseite, stand auf und befahl mir, in die Nähe eines Fensters zu kommen, von dem aus man Camelot sehen konnte, hütete sich aber, hinauszuschauen, sondern strich stattdessen mit den Fingerspitzen über einen Spiegel, der von einem großen Messingrahmen gehalten wurde. Der Spiegel war so ausgerichtet, dass er auf das Fenster zeigte, und man hätte annehmen können, dass er den Blick auf das berühmte Artus-Schloss abbildete. Aber dieser Spiegel war nicht so wie andere Spiegel; die Oberfläche schien von einem leichten Dunst überzogen, sie wurde erst schiefergrau und zeigte dann plötzlich ein Bild, das ganz anders als das erwartete war.
»Die übliche Stelle?«, fragte die Lady von Shalott.
»Ja, bitte.«
Das Bild verdichtete sich zu einer Vorstadtstraße in der alten Stadt Swindon.
Meine Gastgeberin berührte mich an der Schulter. »Ich lasse Euch jetzt in Ruhe arbeiten«, sagte sie und kehrte zu ihrem Bilderteppich zurück, der, so schien es mir, David Hasselhoff in verschiedenen Episoden von
Baywatch 2
zeigte.
Ich starrte fasziniert in den Spiegel. Er flimmerte und flackerte gelegentlich, und die Farben waren ein bisschen flau, aber ansonsten war das Bild gestochen scharf.
»Fünfundvierzig Grad nach links.«
Das Bild im Spiegel drehte sich und zeigte jetzt das Haus, in dem Thursday und Landen lebten. Aber was ich da sah, war kein Buch oder eine Erinnerung, sondern die wirkliche Welt, das AußenLand, die RealWelt. Die Lady von Shalott besaß ein Fenster in die Realität und konnte dort alles sehen, wann immer sie Lust dazu hatte. Große Ereignisse, große Menschen, ja sogar
Baywatch
. Die Bilder, die sie sah, wurden alle in ihren Teppich hineingewoben, aber sie durfte bei Todesstrafe nicht aus dem Fenster sehen. Es war alles ein bisschen merkwürdig, aber so ist Tennyson eben.
Der Anblick war Echtzeit, und wenn man davon absah, dass es keinen Ton gab, war er fast so gut, als wäre man selbst da gewesen.
»Sechs Meter vorwärts.«
Der Fokus bewegte sich auf eine vertraute Tür zu. Ich hatte eine ganz ähnliche in meinem Buch, allerdings ohne die abblätternde Farbe und die feinen Risse in der Lackierung, die nur durch eine langjährige natürliche Verwitterung erzielt werden können. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug.
»Eintreten.«
Der Fokus glitt durch die Tür. Der Flur war mir nicht ganz so vertraut. Thursdays reales Haus war dem Ghostwriter, der meine Serie verfasst hatte, nur einmal ganz kurz beschrieben worden, und deshalb stimmte das Innere nicht überein. Ich erschrak, als jemand am Spiegel vorbeilief. Es war ein junges Mädchen, kaum älter als zwölf, das für ihr Alter sehr ernsthaft aussah. Das musste Thursdays Tochter Tuesday sein, genauso genial wie Onkel Mycroft, aber derzeit im launischen Zustand der Pubertät. Nichts passte ihr. Wenn es mal keine Probleme mit der Neufassung der elektrischen Feldtheorie der Gravitation gab, musste sie sich über ihren Bruder Friday ärgern, den sie für einen totalen Penner und Faulenzer hielt.
»Zwei Meter vor.«
Der Fokus richtete sich auf die Garderobe und den dazugehörigen kleinen Tisch. Ich sah sofort, dass Thursday
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