Wo ist Thursday Next?
nicht zu Hause war, denn ihre Handtasche, ihre Schlüssel, ihr Handy und ihre ramponierte Lederjacke waren nicht da. Das hieß noch lange nicht, dass sie verschwunden war, wie der rothaarige Gentleman behauptet hatte. Es bedeutete lediglich, dass sie gerade nicht zu Hause war.
»Sechs Meter vorwärts, zwanzig Grad schwenken.«
Der Fokus bewegte sich in die Küche, wo ein Mann am Küchentisch saß und sich bemühte, Tuesday bei ihren GS G-Hausarbeiten zu helfen. Er hatte graue Schläfen und ein freundliches,
sehr
vertrautes Gesicht. Das war Landen Parke-Laine, Thursdays Ehemann. Meine Augen wurden feucht, und ich musste blinzeln. Er unterhielt sich mit seiner Tochter, und sie lachten vergnügt. Ich konnte natürlich nichts hören, aber ich versuchte mir vorzustellen, wie ihr Gelächter klang. Es war bestimmt wie Musik.
»Einundzwanzig Grad nach rechts und einen Meter zurück.«
Der Spiegel tat wie geheißen, und ich sah die ganze Familienszene. Ich hatte so etwas nicht. Nichts davon. Weder einen Ehemann noch Kinder. Obwohl Thursday den Wunsch geäußert hatte, dass Landen in der Serie mitspielen sollte, nachdem ich sie übernommen hatte, war er dort nie aufgetaucht – und das Gleiche galt für die Kinder. Senator Jobsworth und der GattungsRat hatten sich über Thursdays Wünsche einfach hinweggesetzt, und so folgte die Serie dem alten Handlungsverlauf, wonach Landen im
Fall Jane Eyre
bei einem Brand ums Leben kommt. Das sollte wohl ein Versuch sein, Thursdays fiktivem Kampf gegen das Verbrechen einen tieferen Sinn zu geben. Das war zwar von der Psychologie und Dramaturgie her recht holprig, aber der Verlust des Geliebten war so überzeugend und gut geschrieben, dass ich praktisch in jeder Minute des Tages darunter litt.
Fiktional zu sein ist ein zweischneidiges Schwert. Man erlebt die guten Zeiten zwar immer wieder, aber leider die schlechten auch. Für jede Niederlage, die ich der Goliath Corporation beibringenkonnte, musste ich auch den Verlust von Miss Havisham hinnehmen. Und für jeden Augenblick in Gesellschaft von Onkel Mycroft musste ich auch den schrecklichen Tag im Krimkrieg noch einmal erleben, an dem mein Bruder starb. Der Jubel darüber, dass ich Acherons finstere Pläne durchkreuzt und Jane Eyre die Rückkehr in ihren Roman ermöglicht hatte, wurde unweigerlich dadurch getrübt, dass ich Landen verlor – immer und immer wieder.
Und jetzt stand ich hier und starrte auf das Leben, das eigentlich meins hätte sein sollen. Ich wäre so gern bei den Kindern gewesen, die man mir nicht erlaubt hatte. Ich hätte meine Kraft so gern in diese Familie investiert, immer in der wunderbaren Hoffnung, elternmäßig einmal nicht mehr vonnöten zu sein. Wenn ich mal besonders niedergeschlagen war, versuchten Pickwick und Mrs Malaprop mich damit zu beruhigen, dass der Verlust meines Geliebten und der Verzicht auf ein Familienleben mich motivationsmäßig durch die Handlung meines Romans trieben, aber das war noch nicht mal ein magerer Trost. Ich hätte einen geschriebenen Landen und geschriebene Kinder an meiner Seite haben sollen. Das war mein gutes Recht.
Ich beobachtete Landen noch ein paar Minuten lang. Jede Geste und jeder Zug in seinem Gesicht waren mir unendlich wichtig. Ich sah, mit wie viel Humor und Geduld er sich mit Tuesday beschäftigte. Ich sah zu, wie er sich am Ohr kratzte, wie er lachte und lächelte.
Dann kam Friday dazu. Mein Quasi-Sohn war ein hübscher Bursche und sah mindestens so gut aus wie sein Vater. Vielleicht ein bisschen aus dem Ruder gelaufen, aber das war in diesem Alter nicht weiter erstaunlich. Rücksichtnahme, Sorgfalt und Fleiß würden sich schon zur rechten Zeit einstellen. Ich hätte ihm gern ein bisschen Halt gegeben, aber dafür hatte er ja seine Mutter. Die echte Thursday.
Abgesehen davon funktionierte der Spiegel nur in einer Richtung. Sie hatten keine Ahnung, dass ich in ihrer Nähe war, sie hatten keine Ahnung von meinen Gefühlen. Ich sah, wie Landenaufstand, sich ein Glas Wasser frisch aus dem Hahn füllte, ans Fenster trat und hinausstarrte.
»Drei Meter raus in den Garten, neunzig Grad rechts.«
Mein Blickpunkt glitt durch die Hauswand, und nachdem ich ein paar Heizungsrohre und eine gelangweilte Maus zur Kenntnis genommen hatte, stand ich draußen im Garten und schaute von draußen auf Landen, der hinter der Scheibe stand. Obwohl er mich nicht sehen konnte, starrten wir uns direkt in die Augen.
»Whitby hat mich in die Humbug-Bar eingeladen, und ich werde
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