Wo ist Thursday Next?
die nur zwei Zeiger auf dem Zifferblatt hatte.
»Nein, sie hat überhaupt nichts.«
»Na ja, Sie werden sich schon dran gewöhnen. Wenn wir hier in der BuchWelt wären, hätten Sie wahrscheinlich einen Chronometer, der die zwölf Stunden rückwärtszählt, um alles recht spannend zu machen. Aber es geht auch ohne. Glauben Sie mir, an die Handlung in der RealWelt muss man sich erst gewöhnen.Seit sechs Monaten habe ich nichts mehr für Bradshaw getan. In der BuchWelt ist das kein Problem, eine Angelegenheit von zehn Worten. Aber hier draußen sind es
wirklich
sechs Monate. Tod und Teufel! Es ist unglaublich langweilig. Man kann ja nicht dauernd Reality-Fernsehen anschauen, obwohl es für mich inzwischen viel einfacher ist, seit sie die Flachbildschirme eingeführt haben. Was wollen Sie denn als Erstes machen?«
»Wenn ich laufen könnte, wär’ das nicht schlecht.«
Agent Square war ein guter Lehrer, und innerhalb von zwanzig Minuten hatte ich die Prinzipien von Masse und Schwungkraft begriffen. Obwohl es für jemanden, der es von klein auf gelernt hat, wahrscheinlich ganz einfach ist, brauchte ich doch ein bisschen, bis ich begriffen hatte, dass man sich zurücklehnen muss, wenn man anhalten und dabei nicht umfallen will.
»Zweifüßiges Gehen ist ständig gehemmtes Fallen«, sagte Square. »Wenn es nicht so weit verbreitet wäre, würde es einem wahrscheinlich als Wunder erscheinen – genauso wie vieles andere hier draußen, um ehrlich zu sein.«
Das »Geradeausgehen« fand ich gar nicht so schwer, aber wie man auf den Beinen bleibt, wenn man eilig rechts abbiegt, musste ich länger üben. Ich ruderte heftig mit den Armen, bis mir Square geduldig erklärte, wie man die Geschwindigkeit und die zentripetalen Kräfte mit Hilfe der Reibung zwischen Boden und Schuhsohle kontrolliert.
»Die Außenländer müssen hervorragend kopfrechnen können«, sagte ich, als ich die verschiedenen komplizierten Gleichungen der Vektorenrechnung in den Griff zu kriegen versuchte, nachdem ich wieder einmal gestolpert war.
»Sie können es sogar ohne jegliches Denken«, sagte Square. »Warten Sie nur, bis Sie jemanden auf einem Einrad sehen – das ist Mathe vom Feinsten.«
Als ich das Gehen beherrschte, gab es weitere Probleme: Das Gewicht meiner Kleidung beengte mich, und von dem unter mir dahinrollenden Bürgersteig wurde mir schwindlig. Square riet mir, nicht nach unten zu schauen, sondern auf den Horizont, und nachzehn Runden um den kleinen Park war ich so weit, etwas mehr zu riskieren.
Wir gingen langsam die Straße entlang und ich nahm all die zahllosen Dinge wahr, an denen die RealWelt so reich war: die Flecken, die Korrosion, die Spiegelungen – fast nichts davon konnte angemessen erklärt und beschrieben werden, aber jedes Detail faszinierte mich.
»Was ist das?«
»Eine Spinne.«
»Und das?«
»Hundekacke.«
»Ach! So sieht die also aus. Und wer ist das da drüben?«
»Wo?«, fragte Square und drehte seinen Körper so hin und her, dass seine Sinnesorgane die Richtung abtasteten, in die ich zeigte. »Ich sehe nichts.«
Aber es war etwas da – eine schattenhafte menschenähnliche Gestalt, durch die ich hindurchsehen konnte. In der BuchWelt hatte ich mal Marley’s Ghost getroffen, als wir alle diese langweiligen »Wie-schützt-man-sich-vor-Grammasiten«-Workshops mitmachen mussten, und das, was ich jetzt sah, war ganz ähnlich – durchsichtig wie ein Gespenst. Nach dem Vortrag hatte ich mich damals lange angestellt und Marley’s Ghost gefragt, ob er nicht mal in meiner Serie erscheinen wolle, aber sein Agent hatte gesagt, ich solle bloß abhauen. Nicht mal das Programmheft wollte er mir signieren.
»Was haben Sie erwartet?«, hatte Marley’s Ghost mich gefragt. »Ich bin doch nicht Albert Schweitzer.«
»Ein Geist?«, sagte Square, als ich ihm erklärte, was ich gesehen hatte. »Kann schon sein. Es gibt so viel Unerklärliches auf der Welt. Man tut gut daran, jederzeit wachsam zu bleiben. Gerade, wenn man denkt, man hätte alles begriffen, kommen plötzlich die String-Theorie, die strukturierten hypothekenbesicherten Anleihen oder ein neues Album von Björk und peng!, bist du wieder genauso verwirrt wie am Anfang.«
Kurz darauf kamen wir zum Clary-Lamarr-Travelport
.
An diesem Drehkreuz konnte man vom Skyrail auf die örtlichen Strecken umsteigen. Nach Westen ging es zum Fährhafen Bristol, nach Osten zum nächsten Gravitube-Terminal am Stadtrand von London. Wir befanden uns im
Weitere Kostenlose Bücher