Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
heranzulassen?
Plötzlich rollte eine Welle der Panik über sie hinweg. Sie wollte das alles nicht noch einmal erleben! Sie wusste, wenn Sander ihr dieses Mal das Herz brach, würde es für immer sein.
“Du solltest wirklich damit aufhören, ständig mit dieser Leidensmiene durch die Gegend zu laufen, Kleiner”, sagte Susanna, ohne von dem Buch auf ihrem Schoß aufzuschauen. Sie saß mit überkreuzten Beinen auf der rot-weiß karierten Picknickdecke, das Haar fiel ihr übers Gesicht. “Wo sich deine Eltern so viel Mühe geben, dich aufzuheitern.”
Linus hielt in der Betrachtung eines Grashüpfers, den er auf der Wiese entdeckt hatte, inne und blickte zu seinem Kindermädchen auf. “Sie sind nicht meine richtigen Eltern”, entgegnete er nüchtern, doch das war nur ein verzweifelter Versuch, seine wirklichen Gefühle zu verbergen. Denn irgendwo, ganz tief in seinem Inneren, hatte sich ein großer, schmerzender Knoten gebildet, der mit jedem Tag größer wurde und mehr wehtat.
“Aber Finja wäre vielleicht bald ohnehin deine neue
Mamma
geworden”, entgegnete Susanna. “Nach allem, was ich so gesehen und gehört habe …”
“Du lügst!”
“Ach ja? Na, dann schau doch mal, was ich hier habe.” Sie zog eine schon etwas vergilbte Fotografie zwischen den Seiten ihres Buches heraus und hielt sie Linus hin. Als der Kleine danach greifen wollte, zog Susana den Arm sofort zurück. “Warte mal. Versprichst du mir, dass du niemandem sagst, dass du das Bild von mir hast?”
Linus nickte.
“Schwörst du es?”
Wieder nickte er.
“Also gut.” Sie überreichte ihm das Foto mit einem triumphierenden Lächeln. “Und, was meinst du jetzt, warum deine
Mamma
und dein
Pappa
so oft Streit miteinander hatten, hm?”
Das Bild zeigte Linus’
Pappa
und seine Tante Finja, wie sie glücklich in die Kamera lächelten. Linus verstand nicht. Hatte Susanna denn recht damit, dass …
“Aber das ist ja jetzt sowieso nicht mehr wichtig”, fuhr sie fort. “Jetzt, wo deine Eltern fort sind.”
Empört funkelte Linus sie an. “
Mamma
und
Pappa
sind im Himmel – Tante Finja und Onkel Sander passen nur auf mich auf, bis sie wieder zurückkommen und mich abholen.”
Seine Worte veranlassten Susanna zu einem Kopfschütteln. “Das glaubst du doch nicht wirklich, oder? Ich meine, dass sie wieder zurückkommen werden. Warst du denn nicht bei der Beerdigung?”
“Aber sie kommen zurück!” Wütend schaute Linus sie an. “Sie würden mich nie einfach so allein lassen, nie!” Dann sprang er auf und lief einfach davon. Susanna rief ihm nach, er solle stehen bleiben, doch er hörte nicht auf sie. Ehe sie sich aufgerappelt hatte, war er bereits bei dem kleinen Wäldchen am Seeufer angelangt und im Unterholz verschwunden. Tränen strömten über sein kleines Gesicht, und sein Atem ging gepresst und stoßweise.
Er schämte sich dafür, dass er weinte. Doch je mehr er versuchte, ein großer Junge zu sein, umso weniger wollte es ihm gelingen. Als Susannas Rufe hinter ihm endlich leiser wurden, setzte er sich mit dem Rücken an einen Baumstamm, zog die Knie bis zum Kinn heran und wiegte sich sacht vor und zurück.
Ob Susanna recht hatte? Würde er seine Eltern wirklich niemals wiedersehen? Überhaupt nie wieder? Er vermisste sie so sehr, und alles, was er sich abends vor dem Schlafengehen vom lieben Gott wünschte, war, dass sie wieder zu ihm zurückkehrten.
Dass alles wieder so sein würde wie früher.
Doch im Grunde seines Herzens wusste er, dass sich dieser Wunsch niemals erfüllen würde. Und dann dachte er an Tante Finja und Onkel Sander und daran, wie viel Mühe sie sich gaben, damit er sich bei ihnen wohlfühlte. Die beiden wären bestimmt traurig, wenn er einfach so weglief.
Wohin auch?
Linus wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht, dann rappelte er sich auf und blickte sich um. Dabei stellte er fest, dass er nicht wusste, wo er war. Tapfer ging er einfach drauflos, immer tiefer in den Wald hinein.
Als er nach einer Weile die Lichtung noch immer nicht entdeckte, stieg Panik in ihm auf. “Tante Finja”, rief er, so laut er konnte. “Onkel Sander! Susanna!”
Doch er erhielt keine Antwort.
Mit einem erstickten Schluchzen setzte er sich auf den weichen, mit Moos gepolsterten Waldboden, zog die Knie an und barg das Gesicht in den Händen.
Als er plötzlich ein seltsames Geräusch hörte, sah er ruckartig auf.
Gehetzt blickte er hin und her, überall schienen Schatten durch das Unterholz zu huschen. Und
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