Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
nicht mehr hier gewesen war, hatte sich so gut wie überhaupt nichts verändert. Der Stamm der vom Sturm umgeknickten mächtigen Eiche wirkte beim genaueren Hinsehen vielleicht ein wenig mehr vom Zahn der Zeit angegriffen, das Holz war verwittert und grau. Trotzdem fühlte Finja sich für einen Augenblick wie in die Vergangenheit zurückversetzt, und erst Linus’ leises Schluchzen holte sie wieder in die Gegenwart zurück.
Er kauerte in Finjas ehemaligem Versteck, einer Bodensenke unter der Eiche, in der ein Kind bequem Platz fand, und weinte bitterlich. Als er sie bemerkte, schaute er auf. In seinem Blick lag eine solch tiefe Verzweiflung, dass es Finja fast das Herz zerriss.
“Du kannst jetzt wieder herauskommen”, sagte sie mit einem, wie sie hoffte, aufmunternden Lächeln. “Sie sind weg.”
Linus zögerte, doch ließ er sich von ihr aus seinem Versteck helfen. In seinem weiten Sweatshirt und den Jeans, die jetzt mit Erd- und Grasflecken übersät waren, wirkte er noch viel kleiner und schutzbedürftiger als sonst.
“Wollen wir darüber reden?”, fragte sie sanft.
“Ich …” Er holte tief Luft, und in seinen Augen sammelten sich neue Tränen. “Ich will nicht zu
Mormor
und
Farfar”
, stieß er hastig hervor. “Kann ich … Kann ich nicht lieber bei euch bleiben? Bei Onkel Sander und dir?”
Finja hatte das Gefühl, vor lauter Zuneigung zu diesem traurigen kleinen Jungen zu zerfließen. Sie kniete sich vor ihm hin, nahm seine Hände und schaute ihn direkt an. “Aber natürlich kannst du das. Ich werde nicht zulassen, dass sie dich uns wegnehmen, das verspreche ich dir.”
Aufschluchzend schlang Linus seine kleinen Arme um sie, und Finja hielt ihn fest, bis er sich beruhigt hatte. Stumm schwor sie sich, dass sie alles daransetzen würde, das Versprechen, das sie ihm gegeben hatte, zu erfüllen.
Sander stand am Rand der Lichtung und beobachtete seine Frau und Linus nachdenklich. Ein seltsames Gefühl hatte von ihm Besitz ergriffen, das er nicht recht einzuordnen wusste – schon gar nicht im Zusammenhang mit Finja.
War es Rührung? Ergriffenheit?
Nachdem er die Bjorkmans und deren Rechtsanwalt endlich losgeworden war, hatte er sich gleich auf die Suche nach Finja und Linus gemacht. Susanna bereitete inzwischen im Haus einen heißen Tee zu, der ihnen sicher allen nach der ganzen Aufregung guttun würde.
Sander hatte befürchtet, Finja könnten wieder die Nerven durchgehen, so wie vorhin am See. Doch offenbar war seine Sorge unbegründet gewesen.
Es erstaunte ihn, wie sanft und liebevoll sie mit dem Jungen umging. Sie zeigte eine Seite von sich, die ihm auf eine merkwürdige Weise zugleich neu und vertraut erschien. Unwillkürlich schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit ab …
Sie hatten sich auf einer Kunstausstellung wiedergetroffen. Sander hatte sie sofort erkannt, denn er war insgeheim schon in der Schule in die fünf Jahre jüngere Finja Elmerson verliebt gewesen. Doch sie hatte ihn nicht einmal bemerkt – ganz im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester Greta, von der er ein paar Jahre lang mit glühenden Liebesbriefen überschüttet worden war.
Sie gingen zusammen einen Kaffee trinken, unterhielten sich über ehemalige Mitschüler und lachten viel. Am Ende des Tages hatte Sander gewusst, dass Finja die Frau war, die er einmal heiraten wollte. Sie war wunderschön und sexy, herzlich, liebevoll und sanft. Dass irgendein düsteres Geheimnis sie zu quälen schien, weckte seinen Beschützerinstinkt. Hartnäckig warb er um ihr Herz. Und als er nur ein paar Monate später zusammen mit Finja vor den Traualtar trat, glaubte er sich am Ziel seiner Träume.
Zu diesem Zeitpunkt kannte er ja noch nicht den wahren Grund, warum Finja sich auf diese Heirat eingelassen hatte. Dass ihre Zuneigung zu ihm nur vorgetäuscht gewesen war und sie ihn nur benutzt hatte.
Ausgerechnet ihrer Schwester Greta war es zu verdanken, dass ihm die Augen aufgegangen waren. Greta, die schon an der Schule bis über beide Ohren in ihn verliebt gewesen war.
Etwa ein halbes Jahr nach seiner Hochzeit mit Finja hatte sie ihn überraschend angerufen – um ihm die Augen zu öffnen. Was sie ihm erzählte, war ebenso hässlich wie bitter: Finja war mit Paul Bjorkman verlobt gewesen, ehe dieser die Beziehung mit einem Paukenschlag beendet hatte, um kurz darauf mit Greta vor den Traualtar zu treten. Also hatte sich Finja ebenfalls einen Ehemann gesucht.
Laut Greta war die Wahl auf ihn gefallen, weil Finja verzweifelt nach
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