Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
sehen, verstanden?” Mit diesen Worten beendete sie das Gespräch, und Stille kehrte ins Haus ein.
Eine Woche später stand Finja auf dem Balkon des Schlafzimmers und schaute hinunter zum See, dessen Wasser in sanften Wellen ans Ufer schwappte. Dort unten, im Schatten einer hohen Birke, saß Linus im Gras und starrte mit hängenden Schultern vor sich hin.
Sie seufzte. Wenn sie bloß wüsste, was im Kopf des Jungen vor sich ging. Seit einer Woche zog er sich nun schon zurück, aß schlecht und redete nicht viel. Finja wurde das Gefühl nicht los, dass es irgendwie mit ihr zu tun hatte – aber was?
“Sitzt er schon wieder da unten und grübelt?”, fragte Sander und trat zu ihr hinaus auf den Balkon. Seltsamerweise fiel es ihr inzwischen gar nicht mehr schwer, seine Nähe zu ertragen – ganz im Gegenteil sogar. Seit sie wieder zusammen in einem Bett schliefen, war sie von Albträumen verschont geblieben. Sie hörte weder seltsame Geräusche noch unheimliche Stimmen, die ihren Namen flüsterten. Es schien fast, als scheuten die Geister der Vergangenheit davor zurück, sich mit Sander anzulegen.
Trotzdem waren die Nächte für sie nicht leicht zu ertragen. Finja fand nur schwer zur Ruhe, wenn sie neben Sander lag. Von Tag zu Tag wurde ihr deutlicher, dass sie keinesfalls aufgehört hatte, etwas für ihn zu empfinden. Und jetzt, wo sie dicht auf dicht zusammenlebten, stiegen plötzlich Gefühle in ihr auf, die sie längst vergessen zu haben glaubte.
Manchmal kam es ihr fast vor wie früher, als sie noch glücklich miteinander gewesen waren. Wenn sie gemeinsam durch Dvägersdal spazierten, hielt Sander sie an der Hand. Manchmal küsste er sie sogar – selbst wenn diese Küsse nichts im Vergleich mit dem Kuss in Fallun waren.
Dennoch fiel es Finja zunehmend schwer, zu unterscheiden, was nun Realität war und was nur Theater. Immer wieder musste sie sich daran erinnern, dass Sander und sie dies alles nur für Linus taten. Sie mussten dem Rest der Welt etwas vorspielen, um auch in Zukunft für ihn da sein zu können. Das durfte sie niemals vergessen.
“So geht das schon seit Tagen”, erwiderte Finja niedergeschlagen. “Immerzu sitzt er dort unten, spricht kaum ein Wort und isst so gut wie überhaupt nichts mehr. Wenn das so weitergeht, sind all unsere Anstrengungen umsonst gewesen. Sie werden Linus ganz gewiss nicht in unserer Obhut lassen, wenn auch nur der geringste Verdacht besteht, dass wir nicht mit ihm zurechtkommen.” Hilfesuchend blickte sie Sander an. “Ich habe schon ein paar Mal versucht, mit ihm zu sprechen, aber er blockt völlig ab.”
“Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich mal mit ihm rede. Vielleicht ist es ja genau das, was ihm fehlt: ein Gespräch von Mann zu Mann.”
Finja nickte. Sie war dankbar, dass Sander sich so rührend um Linus kümmerte. Denn das war keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Immerhin war Linus ihr Neffe und daher mit Sander nicht einmal blutsverwandt. Zudem hatte ihre Ehe kurz vor dem Aus gestanden, als sie nach Dvägersdal gekommen waren …
Finja blieb auf dem Balkon stehen, als Sander ging. Nur zwei Minuten später beobachtete sie, wie er in den Garten hinaustrat und zu der Stelle ging, an der Linus am Seeufer saß. Er setzte sich neben ihn, und sie unterhielten sich. Finjas innere Anspannung verstärkte sich. Sie hoffte so sehr, dass es Sander gelang, einen Zugang zu dem Kleinen zu finden. Zuerst sah es auch tatsächlich danach aus, als würden Sanders Bemühungen Erfolg zeigen. Doch dann sprang Linus plötzlich auf und rannte in Richtung Wäldchen davon. Susanna, die sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte, folgte ihm.
Sofort eilte Finja ihrem Mann entgegen. Sie erreichte ihn, noch ehe er das Haus betrat. “Was ist passiert?”, fragte sie. “Warum ist er weggelaufen?”
Sander schien sich unbehaglich in seiner Haut zu fühlen. Er fuhr sich mit der Hand durch sein dunkelblondes Haar und seufzte. “Ich weiß nicht recht, wie ich es dir beibringen soll, aber …”
Es stimmte also! Finjas Puls beschleunigte sich unwillkürlich. Linus’ plötzliche Zurückhaltung hatte etwas mit ihr zu tun. “Was hat er gesagt?”, hakte sie nach. “Bitte, Sander, sag es mir, ich muss es wissen!”
“Linus denkt …” Zögernd nahm Sander ihre Hand. “Er hat wohl irgendwo im Haus ein altes Foto gefunden, auf dem du und Paul zu sehen seid. Ich weiß nicht, wie er darauf kommt, aber er denkt, dass du der Grund dafür bist, dass seine Eltern sich nicht
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