Wo mein Herz zu Hause ist
Hand, und nun stiegen ihr doch noch die Tränen in die Augen. Das hätte ihre Mom auch getan, um den Albtraum zu verscheuchen.
Nur dass Addie nicht ihre Mom war.
Bei dem Gedanken musste Becky noch mehr weinen, und sie wischte sich verstohlen mit dem Handrücken über die Augen.
Lange Zeit lagen sie einfach nur still da. Addie nahm ihre Hand nicht weg, aber sie sagte auch nichts. Schließlich entspannte sich Becky ein wenig, und ihre Tränen versiegten.
„Ich habe von meiner Mom geträumt“, brachte sie schließlich hervor. „Mein Dad hat sie mit einem Messer bedroht, und sie hatte Angst und ist mit dem Auto weggefahren. Dann hatte sie einen Unfall.“
Wieder schwieg Addie, und es gefiel Becky, dass sie sie nicht sofort mit Fragen bestürmte, sondern einfach abwartete. Sie gab sich große Mühe, die düsteren Bilder aus ihrem Traum zu verdrängen und daran zu denken, wie schön es mit ihrer Mom gewesen war.
„Sie hat immer so gern Brot gebacken“, sprudelte es aus ihr hervor. „Sie hat immer gleich mehrere Laibe gemacht und sie dann eingefroren. Es war richtig gutes Brot, weißt du? Mit ganzen Körnern und Rosinen und so. An den Tagen, wo sie gebacken hat, duftete alles danach. Jesse mochte das, und ich auch. Dann hat sie ein Brot aus dem Ofen genommen und den Knust abgeschnitten und ihn mit Butter bestrichen und mir gegeben. Ich mochte immer am liebsten den Knust. Viele Leute finden Knüste zu hart, aber ich nicht. Sie sind knusprig und trotzdem weich. Das ist das beste Stück vom ganzen Brot.“
Becky schwieg einen Moment, aber Addie sagte immer noch nichts.
„Meine Mom hieß Hedy. Es bedeutet lieblich und süß; das habe ich letztes Jahr nachgeschlagen, als Kirsten – meine beste Freundin – dieses Buch über Namen bekommen hat. Hedy … der Name ist ein bisschen altmodisch, aber er passte zu Mom. Sie hatte dieses wirklich liebe Lächeln, weißt du? Wie ein Engel. Und sie war immer fröhlich.“
„Hedy ist ein sehr hübscher Name, Liebes, und ich bin froh, dass deine Mom so ein lieber Mensch war“, sagte Addie schließlich, und es klang melancholisch.
Doch Becky wollte nicht mehr an traurige Dinge denken. „Kannst du auch Brot backen?“, fragte sie.
„Ja. Michaela liebt frisches, warmes Brot mit Butter und Honig.“
Becky versuchte, sich den Geschmack vorzustellen. Frischer Honig von Addies Bienen auf warmem Brot …
„Wenn du magst, backe ich dir ein oder zwei Brote. Die kannst du dann mit nach Hause nehmen. Honig natürlich auch.“
„Mmh, klingt lecker. Meinst du, Daddy mag Honig – obwohl er gegen Bienenstiche allergisch ist?“
„Oh ja, er liebt Honig.“
Becky fragte sich, woher Addie so viel über ihren Vater wusste. Aber vielleicht lag das daran, dass sie beide auf der Insel aufgewachsen und zusammen zur Schule gegangen waren.
Wieder schwiegen sie eine Weile.
Schließlich sagte Becky leise: „Ich hätte Jesse irgendwie aufhalten müssen. Dann wäre Mom nicht ins Auto gestiegen und losgefahren. Ich hätte ihm ein Bein stellen sollen oder ihn festhalten … aber ich habe nur dagestanden.“
„Oh, Kleines, das darfst du niemals denken. Du hast keine Schuld an dem, was passiert ist.“
„Das sagt die Psychologin auch immer.“
„Und damit hat sie vollkommen recht.“
„Dad sagt das auch.“
„Weil es stimmt, Becky.“
Langsam fühlte sich Becky etwas besser – und müde. „Danke, Mrs. M… Addie.“
„Gern geschehen.“
Becky gähnte herzhaft. „Können wir bald Brot backen?“
„Sobald mein Haus repariert ist.“
„Okay.“ Ihr fielen die Augen zu. „Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Liebes.“
Becky lächelte. Liebes . Das hatte ihre Mom auch oft gesagt. Und sie hatte ihre Hand gehalten, wenn sie nicht schlafen konnte. Addie war ihrer Mom wirklich ziemlich ähnlich. Aber zum Glück war Skip überhaupt nicht wie Jesse.
Als Beckys Atemzüge ruhig und gleichmäßig wurden, stand Addie leise auf und trat ans Fenster. Der Regen hatte aufgehört, und ein schmaler Halbmond stand über dem Hügel hinter der Frühstückspension.
Obwohl sie im schwachen Mondlicht nicht viel sehen konnte, erahnte sie doch das kleine Paradies, das ihre Schwester Kat mit ihrem grünen Daumen im Garten hinter dem Haus geschaffen hatte.
Kat hatte sofort erraten, dass Becky Addies verlorene Tochter war. Während die Kinder – Michaela, Becky und Kats zehnjähriger Sohn Blake – einträchtig spielten, hatte sie Addie in ein leeres Gästezimmer gezogen und direkt darauf
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