Wo niemand dich sieht
dort scheint der Boss zu sein. Er unterweist die Männer unseretwegen. Er will nicht, dass man uns tötet. Wenigstens eine gute Nachricht. Ach ja, und er hat Geschmack, was Kleidung angeht.«
»Komm, lass uns von hier verschwinden.« Rasch schlichen wir uns zum anderen Ende des langen Korridors, wo uns eine solide Doppeltür erwartete. Ich probierte den glänzenden Messingknauf.
Er drehte sich mühelos und leise. Ich sprang gebückt in den Raum, die Arme ausgestreckt, die Waffe mit beiden Händen umklammert. Die Tortillas hatte ich in weiser Voraussicht in eine Hosentasche gestopft. Rasch überflog ich das Zimmer, die Knarre immer im Anschlag. Nichts. Niemand zu sehen. Ein ziemlich schickes Büro, mit jeder Menge goldverbrämter Möbel und mehreren teuren Perserteppichen. Als Büro gab es jedoch nicht viel her. Ich sah weder ein Telefon noch ein Fax oder einen Computer. Nichts, um Hilfe herbeizurufen.
Auch Laura kam leise herein, und wir schlossen die Tür. Ich drehte den Schlüssel im Schloss um. »El jefes Büro«, mutmaßte ich. »Muss dem Boss gehören. Wahrscheinlich der Glatzkopf draußen bei den Soldaten. Ich frage mich, wer zum Teufel das sein mag. Mist, nicht mal ein Telefon zu sehen. Die müssen sich über Funk verständigen. «
Laura stand schon hinter dem riesigen Louis-Quatorze-Schreibtisch und sah die Papiere durch. Hinter ihr war ein großes Glasfenster, das den Ausblick auf ein kleines gepflegtes, von einem Holzzaun eingefasstes Gärtchen freigab. Überall blühten tropische Blumen und Pflanzen. »Verflixt, alles in Spanisch. Das kann ich nicht lesen«, ärgerte sie sich. »Schnell, komm her, Mac.«
Jemand drehte am Türknauf.
Laute Rufe ertönten. Es wurde an die Tür gehämmert. Dann krachte ein Gewehrkolben an einen Türflügel, einmal, zweimal. Das teure Holz splitterte.
Keine Zeit mehr. Mit einem Stoßgebet packte ich Laura bei der Hand. Wir nahmen Anlauf, kreuzten die Arme vorm Gesicht und krachten durch das riesige Glasfenster hinter dem Protzschreibtisch.
Wir landeten glücklich auf dem Rasen, rollten uns ab und sprinteten sofort weiter. Das war ein Privatgarten, perfekt gehegt und gepflegt, und ich, der ich Blumen liebte, scherte mich einen Scheißdreck darum.
Nichts wird einem geschenkt, dachte ich, während ich mit meinem Gewehrkolben auf das kleine Holztürchen am anderen Ende des Gartens einschlug. Das morsche Holz splitterte sofort, das Gatter schwang auf. Wir waren kaum aus dem Garten gesprungen, als wir auch schon wie angewurzelt stehen blieben. Vor uns ragte eine grüne Wand auf, nichts wie Dschungel und davor eine Art Burggraben, einen bis anderthalb Meter breit. Damit sollte wohl das Vordringen der üppigen Vegetation verhindert werden. Er war mit einer trüben Brühe gefüllt, die aussah, als würde darin alles umkommen, was auch nur in die Nähe kam.
Abermals nahm ich Laura bei der Hand, und gemeinsam sprangen wir über den Graben. Hinter uns ertönten Rufe. Schüsse wurden über unsere Köpfe abgefeuert. Gut, sie hatten nicht vergessen, dass el jefe gesagt hatte, man sollte uns am Leben lassen.
Wir rannten in die grüne Wand hinein und waren innerhalb von Minuten in ein Halbdunkel gehüllt, das keine Sonne hereinließ. Ein Wettlauf stand uns bevor, gegen ein Dutzend Männer, die hier heimisch waren.
Ich war noch nie zuvor in einem Dschungel gewesen. Der Boden bestand nicht etwa aus einem Dickicht aus Pflanzen, Bäumen und Büschen, wie ich erwartet hätte. Wir brauchten keine Machete, wie in den Filmen. Nur eine Schicht Blätter bedeckte die feuchte Erde. Doch selbst diese dünne Schicht war verrottet. Alles um uns herum lebte, war grün oder verweste.
Es wurde immer dunkler, je weiter wir vordrangen. Die Pflanzen formten ein nahezu undurchdringliches grünes Dach. Nur winzige Sonnenstrahlen kamen hie und da durch. Kein Wunder, dass alles so schnell verweste - es gab überhaupt kein Sonnenlicht, um für etwas Trockenheit zu sorgen. Menschen würden hier ebenfalls verwesen, schoss es mir unwillkürlich durch den Kopf, und es gab jede Menge Getier, das dabei half. Kein besonders gastfreundlicher Ort. Nein, ganz und gar nicht.
Wir rannten noch etwa sechs Meter weiter und mussten dann abrupt anhalten. Weiter ging’s nicht. Jedenfalls nicht ohne besagte Machete. Unmöglich, die Zweige und Triebe beiseite zu schieben, die grüne Wand wurde hier tatsächlich undurchdringlich. So etwas hätte ich mir nicht vorstellen können. Wir verharrten regungslos und lauschten. Ein
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