Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
sie wohl sein würde, eine Frau mit einem solchen Namen? Sophie nahm sich vor, Dr. Starowa auf Russisch zu begrüßen – falls es ihr nicht im letzten Moment die Sprache verschlagen würde.
Wie sagte man noch mal ›hallo‹? » Sdrawtwuitje «, murmelte sie vor sich hin.
Dr. Starowa, so könnte die Leiterin eines geheimen Forschungsinstituts heißen. Wahrscheinlich war sie jung, schön und klug, hatte aber Laster wie Rauchen, Kartenspielen und eine Leidenschaft für exotische Pelze. Und garantiert konnte sie gut schießen. Stark geschminkt war sie auf jeden Fall, mit massenhaft Lidstrich und Lippenstift.
» Paschalusta .« Gut, dass sie wenigstens ›bitte‹ sagen konnte.
Am Ende der Ferienwoche würden Sophie und Dr. Starowa dicke Freundinnen sein, die ihr restliches Leben in Kontakt miteinander bleiben und sich regelmäßig Briefe schreiben würden.
» Spasibo .« Das hieß ›danke‹. Es war bestimmt kein Fehler, wenn man sich auf Russisch bedanken konnte.
Sophie genoss das Gefühl, wie ihre Zunge im Mund herumrollte, wenn sie diese Wörter aussprach. Es klang viel dramatischer als nur »bitte« und »danke«. Und es war lustig, wie die Vokale beim Reden ineinanderpurzelten. Die russische Sprache hatte nichts Geziertes oder Geschliffenes, war nicht übertrieben nett oder freundlich. Keine Distanziertheiten. Eine satte, klangvolle Sprache, wie herzhaftes Gelächter. Dr. Starowa würde ihr Russisch beibringen, das stand für Sophie fest, und sie würde es ganz schnell lernen – endlich etwas, worin sie wirklich gut sein würde.
Plötzlich kam ein mittelaltes Ehepaar mit einem mürrisch blickenden jungen Mädchen auf ihre Gruppe zu. Miss Ellis redete in einem ziemlich gestelzt klingenden Russisch mit ihnen, dann schaute sie auf ihr Klemmbrett und rief: »Lydia? Lydia Sedgwick? Na, was ist denn jetzt? Oh, kann ihr mal jemand in den Arm kneifen und ihr die Kopfhörer runterziehen? Ich fass es nicht – wie kann man sich nur pausenlos die Ohren mit dieser grässlichen Rap-Musik zudröhnen?«
Lydia riss sich verwirrt die Kopfhörer herunter, als die russischen Gastgeber ihr die Hand schüttelten. Aber kaum hatte der Mann ihren Koffer hochgenommen, zog sie die Kopfhörer wieder an.
»Also wirklich«, murmelte Miss Ellis.
Jetzt trudelten auch andere Gastfamilien ein, und die Schülerinnen wurden eine nach der anderen von der Liste gestrichen und aus dem Bahnhof geführt. Um achtzehn Uhr fünfundvierzig waren nur noch Sophie, Delphine und Marianne übrig.
Miss Ellis’ Gastgeber, der den neusprachlichen Zweig an der Schule 59 leitete, stand sichtlich gelangweilt abseits. Schließlich schlenderte er zu Miss Ellis hinüber und unterhielt sich mit ihr, ein Gespräch, das von ständigem Auf-die-Uhr-Blicken, Über-die-Schulter-Schauen und Achselzucken begleitet war.
»Miss Ellis?«
Sophie sog die Luft ein.
Es war die Frau aus dem Café – die mit den schwarzen Haaren und dem gemusterten Strickmantel. Wie aus dem Nichts war sie aufgetaucht.
»Tut mir leid, dass ich so spät komme. Ich bin Dr. Galina Starowa«, sagte sie und lächelte Miss Ellis’ Gastgeber an. Der Mann grinste verlegen zurück und sein gelangweilter Gesichtsausdruck war wie weggeblasen. »Dr. Karenin! Ich habe schon so viel von Ihnen gehört!«
Der Mann richtete sich auf und seine Schultern unter dem dicken Wintermantel sahen gleich viel breiter aus.
»Sie nicht dürfen mir böse sein.« Die Frau beugte sich zu Miss Ellis vor, als wollte sie ihr ein großes Geheimnis anvertrauen. »Mein Auto nicht ist angesprungen. Das Wetter!« Sie lächelte und entblößte dabei ihre Zähne, die blendend weiß und unglaublich gleichmäßig waren. Ihre geschminkten Augenlider schimmerten in einem sanften Perlmuttblau, das ihre hellen Augen noch größer erscheinen ließ. Die Art, wie sie sich zu Miss Ellis vorbeugte – wie eine langstielige Tulpe –, die klangvolle Stimme, die riesigen eisblauen Augen … Sophie blieb fast die Luft weg vor Überraschung. Wie war es möglich, dass sie diese Frau die ganze Zeit im Café beobachtet und nicht wiedererkannt hatte?
Abrupt drehte sie sich zu Marianne um und flüsterte: »Das ist sie!«
»Wer?« Marianne blickte sich suchend um.
»Die Frau, die neulich an unserer Schule war.«
»Was für eine Frau?«
Aber ehe Sophie etwas antworten konnte, sagte Miss Ellis unwirsch: »Na, wenigstens sind Sie jetzt da!« Sie gab sich nicht die geringste Mühe, ihren Ärger zu verbergen. »Es ist sehr spät
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