Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
Moment drang aus der Halle unten das Triumphgeschrei des Generals herauf, der wie rasend vor Jagdfieber war: »Wolf! Wolf! Wolf!«
Ivan stand reglos in der Tür.
»Was hat sie getan?«, murmelte er kopfschüttelnd. »Was zum Teufel hat sie nur getan?«
»Was meinen Sie, Ivan?«, fragte Sophie, die das Gefühl hatte, dass der ganze Palast um sie herum in die Brüche ging.
Ivan zögerte, schaute sie unschlüssig an, dann gab er sich einen Ruck und stieß hervor: »Als die Prinzessin in den Palast zurückgekommen ist, sind die Wölfe noch frei herumgelaufen und das hat ihr Angst gemacht. Dimitri sagte, sie seien an ihre Freiheit gewöhnt. Aber die Prinzessin hat sich fürchterlich aufgeregt. Sie hat Dimitri angedroht seine ganze Familie hinauszuwerfen, wenn er die Wölfe nicht einsperrt. Am liebsten hätte sie sie töten lassen, aber das konnte sie nicht, weil die Volkonskis sonst aus ihren Gräbern auferstanden wären und ihr das Leben zur Hölle gemacht hätten. Das hat sie jedenfalls gesagt.«
»Aber ich dachte, es gibt hier keine Wölfe? Sie haben doch gesagt, das ist alles Geschichte, Vergangenheit.« Sophie streckte die Hand aus, um sich an der Tür festzuhalten. »Als ich den Wolf am Teich gesehen habe, sind Sie hingegangen, um nachzuschauen. Und Sie haben gesagt, da sei nichts!« Sophie schaute erwartungsvoll in Ivans bekümmertes Gesicht.
»Ich habe die Spuren gesehen«, gab Ivan zu. »Da wusste ich, dass noch ein Wolf im Wald ist. Aber das konnte ich ihr doch nicht sagen. Es ist Dimitris Job, die Wölfe im Palast einzusperren, zu füttern und ruhig zu halten. Ein entlaufener Wolf hätte die Prinzessin nur wütend gemacht und sie hätte Dimitri die Schuld daran gegeben. Sie hat ja nur auf einen Vorwand gewartet, um ihn hinauswerfen zu können. Ich musste die ganze Zeit die Hand über ihn halten.«
Sophie dachte daran, wie die Prinzessin Dimitri abgekanzelt hatte, als sie vom Schlittschuhlaufen zurückgekommen waren. Sie hatte mit Ivan und Dimitri unter dem Portikus gestanden und heftig mit ihnen gestritten. Ja, klar! Mascha hatte ihr ja erzählt, was Dimitri alles machen musste: Er putzt Viflijanka und er füttert die … Und dann, im letzten Moment bevor ihr das Wort herausgerutscht war, hatte sie schnell den Mund wieder zugeklappt. Aber sie wusste es. So wie alle hier.
Ganz erschlagen stand Sophie da – sie konnte das alles gar nicht so schnell verdauen.
Ivan fuhr aus seiner Erstarrung auf, als sei ihm jetzt erst die Gefahr bewusst geworden, in der sie schwebten.
»Prinzessin!«, rief er und rannte hinter ihr die Treppe hinunter.
Sophie stürzte blindlings hinterher. Sie vergeudete keinen Gedanken daran, ob es gefährlich war oder nicht.
»Sophie!«, schrie Delphine ihr nach und ihre Stimme war ganz schrill vor Panik.
»Lass uns nicht allein!«, schluchzte Marianne.
Aber Sophie konnte sich nicht hier oben verstecken, während der Wolf gejagt wurde! Hier, im Palast! Der Wolf wusste, dass die Prinzessin Hilfe brauchte, und er war gekommen, um sie vor dem General zu retten. Wie konnte Sophie also zulassen, dass der General den Wolf tötete?
»Sperrt die Tür ab!«, rief sie über die Schulter zu Delphine und Marianne zurück. Als sie sich wieder umdrehte, sah sie gerade noch den blonden Kopf der Prinzessin und den schwarzen des Generals unter sich, wie sie in vollem Lauf die Treppe mit dem weißen Geländer hinunterstürzten. Von Ivan oder dem Wolf keine Spur. Bald nahm Sophie nur noch ihren eigenen keuchenden Atem und den stechenden Schmerz in ihrer Lunge wahr, während sie die Treppe hinunterlief und dabei immer zwei Stufen auf einmal nahm. Warum war sie nur so langsam?
»Bitte lass mich rechtzeitig hinkommen«, betete Sophie laut. »Bitte mach, dass sie ihm nichts tun.«
Die Stimmen wurden schwächer und verhallten schließlich ganz. Dann herrschte Totenstille.
Aber es waren Wölfe im Palast, das wusste Sophie jetzt – sie hatte sie selbst gehört. Weiße Volkonski-Wölfe, wie das Rudel, das den Tod von Prinz Vladimir gerächt hatte. Aber warum hatte die Prinzessin Angst vor ihnen? Sie waren doch die Hüter des Palastes!
Sophie blieb stehen. Sie war einfach losgerannt, ohne zu wissen, wohin: durch mehrere lange Gänge und verfallene Räume, immer den hallenden Stimmen nach. Die Stimmen hatten sie vorwärtsgezogen, aber jetzt waren sie verstummt und Sophie hatte sich hoffnungslos verirrt. Sie stand auf dem obersten Absatz einer Treppe, die sie nicht wiedererkannte. Zahllose Statuen,
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