Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
die in Wandnischen thronten, bewachten jeden ihrer Schritte, aber ein paar waren zerschmettert und vornübergestürzt wie tote Menschen. Sophie schaute in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Nein. Es war hoffnungslos. Sie würde nicht zurückfinden, sondern stundenlang durch leere Räume irren. Ohne die Stimmen, die sie vorwärtsgetrieben hatten, wusste sie ja kaum, wo sie anfangen sollte.
Aus dem Augenwinkel nahm sie einen weißen Nebel am anderen Ende des Ganges wahr.
Der Wolf hatte sie noch nicht bemerkt, das war klar, aber jetzt nahm er Witterung auf, und sie spürte, wie das Wissen um ihre Nähe ihn einhüllte. Und dann machte er lautlos kehrt.
Geschmeidig schnürte er zwischen den glatten, kalten Statuen hindurch, die roten Augen auf Sophie geheftet, ganz auf sie konzentriert. So kam er auf sie zu, der weiße Wolf.
Sophie drückte sich gegen die Marmorbalustrade und machte sich so klein wie möglich, aber ihre Beine verrieten sie. Das Blut pochte ihr in den Ohren. Über dem Flur lag eine Tür, aber sie würde niemals rechtzeitig dort hinkommen. Und wer weiß, ob die Tür überhaupt aufging? Wahrscheinlich war sie verriegelt. Was jetzt? Vielleicht hinunterspringen? Sophie spähte über die Balustrade. Es ging so tief hinunter, dass der Boden praktisch auf sie zustürzte. Sie stellte sich vor, wie sie hinunterfiel, wie sie durch die Luft segelte, leicht, mühelos … und unten zerschellte wie eine der zertrümmerten Statuen.
Der Wolf kam weiter auf sie zu, mit aufgerissenem Maul und hängenden Lefzen. Er war ausgehungert und verstört, aber Sophie spürte seine Kraft, die Muskeln und Knochen und die gefletschten Zähne, die so erschreckend scharf und lang waren. Der Wolf konnte alles ringsherum sehen, das wusste sie, und noch weit darüber hinaus, als sei es ihm möglich, in alle Räume des Palastes gleichzeitig einzudringen. Es war eine völlig andere Art der Wahrnehmung.
Der Wolf blieb ein paar Schritte von ihr entfernt stehen. Wie konnte Sophie ihm nur klarmachen, dass sie keine Bedrohung für die Volkonskis darstellte? Und dass er ihr nichts tun sollte?
Dann tauchte die Prinzessin hinter ihm auf.
Sophie hatte sich so auf den Wolf konzentriert, dass sie die Prinzessin, die lautlos durch den Gang geschlichen war, gar nicht wahrgenommen hatte. Erschrocken sah sie, dass die Prinzessin eine winzige Pistole in der Hand hielt und direkt auf sie zielte. Sophie konnte in den dunklen Pistolenlauf sehen. Was in aller Welt hatte die Prinzessin vor?
»Nicht schießen!«, wollte Sophie rufen, brachte aber nur ein Krächzen hervor.
Der Wolf stand immer noch reglos da, knurrte nur leise.
Die Prinzessin umklammerte die Pistole noch fester und blieb absolut still. Mit unerbittlicher Präzision bereitete sie den Schuss vor, hielt sogar den Atem an, um ihr Ziel nicht zu verfehlen. Nur hielt sie die Waffe viel zu hoch – Sophie schaute ja direkt in den Pistolenlauf –, um den Wolf zu treffen. Nein, die Pistole war auf sie – Sophie – gerichtet!
»Prinzessin … njet !«
Der Schrei kam von Ivan, der mit einem Jagdgewehr über der Schulter herbeistürzte und der Prinzessin die Pistole wegstieß.
Krach!
Sophie starrte auf den Boden. Der Wolf lag auf der Seite zu ihren Füßen, und das Blut sammelte sich in einer dicken roten Lache unter ihm. Vergeblich versuchte er den Kopf zu heben. Er winselte leise, ein Laut, der so kläglich war, verglichen mit dem wilden, machtvollen Heulen, das er vorher von sich gegeben hatte, dass Sophie die Tränen in die Augen schossen.
»Saboteur!«, kreischte die Prinzessin. »Du hast alles kaputt gemacht!«
Ivans Züge waren wie versteinert und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. »Ich habe nichts kaputt gemacht, Prinzessin. Ich habe Sie vor einem schlimmen Fehler bewahrt!«
Die Prinzessin hob ihre Pistole, als wollte sie ihm die Waffe über den Kopf hauen, aber Ivan wich nicht zurück. Und dann passierte etwas Schreckliches – die Prinzessin lachte. Lachte ihn einfach aus. Und durch das hässliche Lachen hindurch drang ein anderes Geräusch – ein Stöhnen oder Winseln.
Der Wolf! Er lebte noch, hievte sich trotz seiner schrecklichen Wunde auf die Füße hoch und hinkte jaulend die Treppe hinunter. Dunkles Blut tropfte ihm an der Flanke herunter.
»Was? Der lebt noch?«, rief der General, der durch den Gang herbeigelaufen kam. Er beugte sich über die Balustrade und richtete seine Pistole auf den Wolf.
Sophie stürzte sich auf ihn, und der Schuss löste
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