Wo Tiger zu Hause sind
den Schlaf.
Eine Stunde darauf wurde er geweckt: »He, aufstehen, du Faulpelz! Was willst du in den Bergen, wenn du die ganze Zeit nur pennst!«
Nelson tauchte aus seiner Hängematte auf wie der Schmetterling aus seiner Puppe und erblickte Onkel Zés lächelndes Gesicht.
»Schau dir nur mal dieses Paradies an!« Zé wies zum Fenster. »Das ist mal was anderes als Fortaleza, oder?«
Hinter der Scheibe waren tatsächlich die Bananenstauden aus seinem Traum zu sehen, dazu der blanke, blaue Himmel, und er hörte das regelmäßige Quaken der Ochsenfrösche.
»Wo sind wir denn?« Nelson rieb sich die Augen.
»Na, bei meiner Schwester! In der Serra da Aratanha. Du warst gestern Abend ganz schön hinüber …«
»Du hast wahrscheinlich recht, mein Kopf fühlt sich an wie eine Wassermelone …«
»In der Bergluft vergeht das im Handumdrehen, du wirst schon sehen. Jetzt steh auf, Firmina hat uns ein Frühstück für echte
Matutos
zubereitet!«
Nach einem Tapioka-
mingao
– einem dicken Brei aus Mehl und gesüßter Milch –, einem ordentlichen Stück Süßkartoffel-Omelett und zwei Schalen Kaffee fühlte sich Nelson schon besser. Nach dem Essen nahm Zé ihn huckepack, und sie gingen zu einem nahe gelegenen Tümpel angeln. Trotz seiner Unerfahrenheit zeigte der Aleijadinho mehr Geschick als sein Lehrer und zog zwei Welse aus dem Wasser; er fand, sie sahen scheußlich aus.
Als sie zum Mittagessen ins Haus gingen, hatte der Himmel sich bedeckt, für den Nachmittag schien sich ein Schauer anzukündigen. Und tatsächlich, sie hatten noch nicht aufgegessen, da brach ein Gewitter los und fesselte sie für den Rest des Tages ans Haus. Nach der Siesta machten sie es sich auf der Veranda in den Hängematten bequem und blickten in den Regen. Zé sang aus dem Gedächtnis die Abenteuer des Prinzen Roldão, wie sie ein jüngeres
Cordel
von João Martins de Athayde schilderte. Diese Geschichte, eine naive Mischung aus der
Ilias
und dem
Orlando Furioso
, schilderte, wie der Neffe Karls des Großen seine Angélique aus den Klauen von Abderrahman, König der Türkei und eingefleischtem Verräter, befreien konnte, indem er sich und seine Waffen in einem von Richard von der Normandie erdachten goldenen Löwen verbarg …
Bei Sonnenuntergang legte sich der Regen endlich und hinterließ zerrissene Nebelschwaden. Die abendliche Feuchtigkeit trieb Zé und Nelson ins Innere des Häuschens, wo sie eine Flasche Cachaça aufmachten, während die alte Firmina die Fische zubereitete, die sie früher am Tage gefangen hatten.
Sie waren mitten beim Essen und lachten gerade viel zu laut – darin sah Firmina in der Erinnerung später einen unheilschwangeren Zusammenhang –, als Motorendonner die Gläser auf dem Tisch zum Klirren brachte, dann über die Maßen anschwoll, bis sie die Köpfe einzogen; und schließlich ließ eine Explosion sämtliche Fensterscheiben des Häuschens zerbersten: Die aus Congonhas kommende Boeing 727 der VASP war in Sichtnähe an den Hängen der Serra da Aratanha zerschellt.
Zé reagierte als Einziger und stürzte ins Freie. Ein Stück weiter bergauf erhob sich im Schein der zu Fackeln verwandelten Bäume ein schwarzer Federbusch von Qualm aus einer großen Wunde im Wald.
»Meu deus!«
, stöhnte er, als ihm klar wurde, was für ein Unglück sich ereignet hatte. »Der wäre uns fast auf den Kopf gefallen.« Dann drehte er sich zu seiner Schwester und Nelson um, die ihm auf die Veranda gefolgt waren: »Wartet hier, ich schau mal, ob ich helfen kann …«
Und rannte zum Ort der Katastrophe los.
Trotz Firminas lauten Rufen krabbelte Nelson, ohne weiter nachzudenken, hinter ihm her.
Als er erschöpft und von Kopf bis Fuß vom rötlichen Schlamm des Weges verschmiert zur Absturzstelle kam, hielt Nelson versteinert vor dem inne, was man gewöhnlich als »Weltuntergangsszenario« bezeichnet, dessen Schrecken sich ihm jedoch sehr viel konkreter durch den Anblick eines noch auf dem Flugzeugsitz geschnallten Frauentorsos offenbarte, der auf seinen quellenden Eingeweiden thronte. Im weiten Umkreis ringsum, gepunktet von den gelb fluoreszierenden Rettungswesten, rauchende Trümmer des Flugzeugs, aufgeplatzte Koffer, ein grässliches Durcheinander. Und all die Dinge, von denen man den Blick nicht wenden konnte: Schaurig verstümmelte Leiber, Fleischfetzen, die wie tibetanische Gebetsfahnen in den Ästen gingen, überall auf dem durchweichten Boden abgerissene Gliedmaßen oder Organe, obszön in ihrer eigenartigen
Weitere Kostenlose Bücher