Wo unsere Träume wohnen
danke.“ Sie setzte sich, während er sich eine Cola aus dem Kühlschrank nahm. „Worüber willst du mit mir reden?“
„Richtig.“ Er riss die Dose auf. „Wir haben heute Morgen das Testament gefunden.“
„Das Testament? Welches Testament? Oh! Das, in dem Doris Violet den Gasthof vermacht hat?“
„Genau das.“
Unter den dicken Wimpern wurden Betsys Augen groß. „Was wollt ihr jetzt tun?“
„Wir haben mit dem alten Anwalt von Doris gesprochen und beschlossen, dass wir Geschäftspartner werden und den Gasthof zusammen betreiben. Violet bekommt zwar nur die Hälfte, aber …“
„Allein hätte sie ihn niemals behalten können. Super!“ Bewundernd blickte sie sich in der Küche um, als sähe sie sie jetzt mit ganz anderen Augen. „Nicht schlecht. Wie denkt Vi darüber?“
Rudy lehnte sich gegen die Arbeitsfläche. „Ich glaube, sie ist noch unentschieden.“
„Das kann ich mir vorstellen“, erwiderte Violets Freundin. „Ich meine, sie hat immer davon geträumt, einen eigenen Gasthof zu haben. Aber nachdem Mitch fort war …“ Sie strich dem Baby über den Kopf. „Versteh mich nicht falsch, ich liebe Vi wie eine Schwester, aber manchmal werde ich aus ihr nicht schlau. Es ist, als hätte sie zwei Seelen in der Brust.“
„Warum hat mir das niemand gesagt, bevor ich sie eingestellt habe“, murmelte er.
Betsy lachte. „Sie ist nicht krank oder so, nur widersprüchlich. Einerseits will sie sich nicht binden und keine Verpflichtungen eingehen, andererseits weiß sie genau, wie sehr sie sich nach Sicherheit und Geborgenheit sehnt.“
Über ihnen rumpelte es gewaltig, gefolgt von einem gedämpften Fluch. Rudy schmunzelte. „Du und Violet, ihr seid schon lange befreundet?“
„Schon ewig. Warum?“
„Auch als sie geheiratet hat?“
Betsy lächelte wissend. „Sie interessiert dich, nicht wahr?“ Rudy schnaubte. „Weiß sie es?“
„Ich glaube … ja.“
„Lass mich raten. Sie hat dir lang und breit erklärt, dass sie noch nicht über Mitch hinweg ist.“
„Sagen wir, sie hat es angedeutet“, verbesserte Rudy.
Betsy schaute auf ihr friedlich schlafendes Baby. „Weißt du, manche Frauen benutzen so etwas als Ausrede.“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mein Interesse erwidert.“
„Schön für euch.“ Violets Freundin stützte den Kopf auf eine Hand. „Also, was willst du von mir?“
„Ein paar Einsichten. Über Violet.“
„Du willst wissen, warum sie noch immer nicht über ihren Ex hinweg ist.“
„Mein Gott, der Mann hat sie verlassen!“, entfuhr es ihm. „Sie und seine Kinder. Er hat sich seit über zwei Jahren nicht blicken lassen. Obwohl sie beteuert, dass es endgültig vorbei ist, scheint sie … irgendwie nicht von ihm loszukommen.“
Betsy zögerte. „Vi bringt mich um, wenn sie erfährt, dass ich mit dir darüber rede. Das mit ihr und Mitch war keine normale Beziehung … aber dazu muss ich weiter ausholen. Violets Dad starb, als sie noch klein war, fünf oder sechs. Das wusstest du? Okay. Ihre Mutter arbeitete hier im Gasthof als Zimmermädchen. Bis sie wieder heiratete. Damals waren Vi und ich … in der siebten Klasse. Zwei Jahre später starb auch ihre Mom, und sie war mit ihrem Stiefvater allein. Der Mann war nicht gerade das Salz der Erde, wenn du weißt, was ich meine. Und nach dem Tod ihrer Mom wurde es noch schlimmer. Sie hat nie darüber gesprochen, aber man sah es ihr an, weißt du?“
Rudy nickte mit heftig klopfendem Herzen.
„Jedenfalls, damals tauchte Mitch auf. Bis dahin, als wir siebzehn waren, hatten Vi und er kaum miteinander gesprochen. Vi war Klassenbeste, Mitch dagegen kam gerade so mit. Aber er war ein netter Junge, still und zurückhaltend und immer freundlich. Er lebte bei seiner Mutter. Die Eltern waren seit Jahren geschieden.“
Betsy zögerte. „Eines Tages kommt Violet in die Schule, und ich merke gleich, dass etwas nicht stimmt. Sie bewegt sich seltsam. So, als täte ihr etwas weh. Ich habe Angst um sie und bringe sie dazu, zur Schulschwester zu gehen. Sie will nicht hin, weint dauernd, aber ich lasse nicht locker. Ihr Stiefvater hat … mit ihr etwas gemacht, was er nicht machen sollte. Und er hat sie geschlagen, ihr sogar ein paar Rippen gebrochen.“
Rudy erstarrte. Übelkeit stieg in ihm hoch.
„Die Schwester, der Direktor, die Vertrauenslehrerin, alle sind sich einig, dass Violet auf keinen Fall zu ihrem Stiefvater zurückdarf. Bevor wir uns versehen, wohnt sie bei Mitch und seiner Mutter. Die beiden
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