Wo unsere Träume wohnen
biss ab. „Er und seine Mutter gaben mir das Gefühl, etwas wert zu sein. Das hatte mein Mom auch versucht, aber … sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Vor allem nach Dads Tod. Und mein Stiefvater …“ Mit grimmigem Gesicht starrte sie nach vorn. „Betsy hat nicht übertrieben.“
„Das tut mir leid.“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Warum hast du mir nichts davon erzählt?“
„Ich spreche nicht gern darüber. Mit niemandem. Nimm es nicht persönlich“, bat sie.
„Erinnerst du dich an deinen richtigen Vater?“
„An sein Lächeln, sein Lachen … Er war ein großer Clown.“ Sie schmunzelte wehmütig. „Natürlich hatte er ein echtes Alkoholproblem, aber das wusste ich damals nicht. Daddy war ein glücklicher Trinker.“ Sie zögerte. „Mein Stiefvater nicht.“
„Lass mich raten – Mitch hat nicht getrunken.“
„Nein. Und er ist in mein Leben getreten, als ich am dringendsten Zuwendung brauchte. Zuneigung und Wärme.“ Violet machte eine Pause. „Körperlich, meine ich.“ Als Rudy nicht antwortete, drehte sie sich zu ihm. „Hey, du wolltest, dass ich ehrlich bin …“
„Du erzählst mir nichts, was ich mir nicht schon gedacht habe, Süße.“ Er konzentrierte sich auf die Straße. „Es fällt mir schwer, das zu sagen, aber … vermutlich war es eine verdammt gute Sache, dass Mitch eingegriffen hat.“
„Bevor mein Stiefvater mich umbringen konnte, meinst du.“
Sie klang resigniert. So, als hätte sie sich mit dem Unabänderlichen abgefunden. Rudy hatte diese Einstellung oft genug erlebt, als Polizist, bei vielen Frauen und Kindern, die unter häuslicher Gewalt litten.
„Nicht nur das“, sagte er. „Ich meine, bevor der Schaden hier drin …“ Er klopfte sich an die Brust, „… irreparabel war. Nicht jeder, der so etwas durchmacht, kommt so gut davon.“
Sie holte tief Luft. „Danke.“
„Wofür?“
„Für dein Verständnis.“
„Ich tue mein Bestes.“ Er lächelte. „Ich will dir nicht schmeicheln, aber ich finde dich … phänomenal. Du bist nicht das typische Opfer. Was du ertragen musstest, hat dich stärker gemacht. Und ich muss sagen, ich finde das verdammt sexy.“
Violet lachte. „Du nimmst kein Blatt vor den Mund, was?“
„Stimmt. Aber dass Mitch so einfach gegangen ist … nach allem, was du gerade erzählt hast, passt es nicht zu ihm.“
Ihr Blick zuckte in seine Richtung. „Ja, das macht es mir so schwer, mich damit abzufinden. Er hat nie etwas getan, ohne einen verdammt guten Grund dafür zu haben.“
Schweigend legten sie die nächsten paar Meilen zurück.
„Er schreibt dir noch?“
Violet zögerte einen Herzschlag zu lang. „Ja.“
„Hast du dich je gefragt warum? Ob er vielleicht nur sein schlechtes Gewissen besänftigen will?“
„Natürlich! Deshalb habe ich ihm auch nie Hoffnung auf einen Neuanfang gemacht!“
„Nie?“
Sie starrte aus dem Seitenfenster. „Nie.“
Er unterdrückte das Triumphgefühl, das in ihm aufstieg. „Aber du hast zurückgeschrieben …“
„Er ist der Vater der Jungs! Ich habe versucht, den Kontakt nicht abreißen zu lassen, damit er irgendwann wieder eine richtige Beziehung zu seinen Söhnen aufbauen kann.“
„Das ist alles?
Sie antwortete nicht gleich. „Hör zu, Rudy. Ich gebe mir wirklich die größte Mühe, und mich unter Druck zu setzen, macht es nicht gerade leichter.“
„Ich will dich nicht unter Druck setzen, ich …“ Er stieß den Atem aus. „Ich möchte dir nur helfen, dich aus … welchen Verstrickungen auch immer zu befreien.“
„Damit ich mich in dich verstricken kann?“
„Dagegen hätte ich nichts“, erwiderte er lächelnd.
Sie lachte, in genau dem Moment, in dem ein Sonnenstrahl durch die grauen Wolken fiel und die Landschaft in goldenes Licht tauchte.
Violet schlängelte sich durch das voll gestellte Wohnzimmer eines Farmhauses in der Nähe von Keene. Sie schaute zu Rudy hinüber, der gerade um einen alten Marmortisch feilschte. Er konnte nicht wissen, dass sie Mitch in ihrem letzten Antwortbrief gefragt hatte, ob es eine neue Frau in seinem Leben gäbe. Nein, hatte er geschrieben, eine andere würde es nie geben.
Rudy drehte sich um und lächelte ihr zu, und Violet spürte, wie das Seil, das sie an ihren Exmann und die Vergangenheit band, noch weiter zerfranste. Langsam, aber sicher wurde ihr bewusst, dass ihr altes, verlorenes Leben nicht die Realität gewesen war. Es war ihre eigene kleine, vermeintlich heile Welt gewesen, die auf Dauer keiner
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