Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
konfrontierte mich mit den Tatsachen. Von ihm erfuhr ich, wo Şebnem lebte und in welchem Zustand. Es tut nichts zur Sache, wie und auf welchem Weg sie dorthin gelangt war, wer sie hingebracht, eingeliefert und dort gelassen hatte. Ich habe nicht gefragt, mich nicht bemüht, das zu erfahren. Wichtig war nur, was sie erlebt hatte, und noch mehr, daß sie dort lebte, ohne zu sprechen. Wovon hatte ich geträumt, und was erfuhr ich nun! Jetzt konnte ich nicht mehr ausweichen. Ich war an die letzte Grenze gestoßen. Sie war bloß ein paar Kilometer von mir entfernt. Es war nicht so, daß ich nicht eine Weile gezögert hätte. Wie sollte ich ihr nach dem, was wir erlebt hatten, gegenübertreten, wie konnte ich es wagen? … Was würde sie fühlen, wenn sie mich sah? … Diese Fragen zerfraßen mich innerlich. Doch eines Morgens, nach einigen Tagen des inneren Kampfes, machte ich mich auf zum Krankenhaus, um mich allem zu stellen. Ich fand sie. Denn nun wollte ich sie finden. Du hättest die Szene sehen sollen. Bei unserem ersten Wiedersehen schaute sie mich genauso an wie dich bei eurer ersten Begegnung. Trotz unserer gemeinsamen Vergangenheit … Lächelnd, unbeteiligt, tief in ihre Stummheit vergraben … Ich versuchte, zu reden und ihr zu sagen, was ich sagen konnte. Ich konnte nicht feststellen, ob sie mich hörte, geschweige denn erkannte. Wie weh tat es mir, sie so zu sehen. Wie viele Gründe hatte ich, mich über uns zu grämen, und zwar sehr … Ich erlebte noch einen weiteren Tod … War das der Preis dafür, daß ich am Leben geblieben war? … Glaub mir, ich habe mir sogar diese Frage gestellt. Was hatte ich getan? … Was für ein Mensch war ich? … Ich lernte Zafer Bey kennen und sprach mit ihm. Er sagte mir dasselbe, was er auch dir anfangs gesagt hat. Sie hatte seit einigen Jahren keinen Besuch mehr gehabt. Einige Male hatte er ihre Mutter gesehen. Eine stille, früh gealterte, gebrochene Frau, soweit er hatte erkennen können. Er erfuhr von ihr, daß sie ihren Mann verloren hatte und nichts mehr besaß außer ihrem Haus, und er gewann den Eindruck, sie wollte ihre Tochter am liebsten nicht mehr wiedersehen. Dann zog sie in ein Altersheim und verstarb dort. Dieser Todesfall hatte ihn Şebnem noch näher gebracht. Aber leider sind die Möglichkeiten des Gesundheitssystems begrenzt. Er kümmerte sich um sie mehr als um die anderen, doch selbst das war nicht ausreichend. Offen gesagt konnte man nicht behaupten, daß die Bedingungen für sie günstig waren. Er hörte meine Geschichte geduldig und mitfühlend an. Er wußte schon einiges, aber keine Details. Er sagte, ich solle geduldig sein und sie nicht allzusehr drängen. Was sollte ich nun wohl tun? … Sollte ich sie jetzt so dalassen? … Sollte ich nach dieser Begegnung weiterhin die Augen verschließen, so tun, als wäre nichts? … Das ging natürlich nicht. Jahr und Tag ging ich also weiter zu ihr hin, immer in der Hoffnung, mich ihr erklären zu können. Doch … Doch es gelang mir nicht, den Abstand zwischen uns zu überwinden. Sie sprach nicht mit mir, ich habe alles versucht, was mir nur einfiel, doch sie sprach nicht. Viele Male habe ich sie auch besucht, ohne daß sie mich überhaupt wahrnahm. Dann beobachtete ich sie von weitem, wie sie im Garten herumspazierte oder ganz allein schweigend auf einer der Bänke saß … Ich wußte mir keinen Rat … Und tröstete mich damit, daß sie am Leben war … Ich versuchte, mir vorzulügen, sie habe sich in ihren Frieden zurückgezogen … Um sie nicht länger zu quälen … Als hätte ich sie nicht schon genug gequält … Ich tat alles, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, damit sie in einem besseren Umfeld leben konnte. Ein Teil meines Lebens spielte sich nun dort ab. Vielleicht mußte sie immer dortbleiben … Vielleicht würde das Leben so weitergehen bis zu meinem letzten Atemzug … Mir war bewußt, daß ich mich zugleich selbst bestrafen wollte, um meine Schuldgefühle zu vermindern. Doch ich wußte, ich würde bis zum Ende an ihrer Seite bleiben, aus welchem Grund auch immer. Dann … Dann bist du mir begegnet … Durch deine Anwesenheit bekam unsere Erzählung einen ganz anderen Verlauf …«
Nun war ich endlich an der Reihe mit Reden und Nachfragen. Ich war in einem tiefen Schmerz versunken. Dieser Schmerz hätte mich aufhalten können, mich wieder auf mich selbst zurückwerfen können. Doch ich hatte Fragen. Auch wenn ich möglicherweise das, was ich dann über ihn und uns erfuhr, nicht
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