Wodka und Brot (German Edition)
gebeten, dass er zu einem Arzt geht, und ich habe ihm vier hässliche Löcher in die Handfläche gebohrt. Menschen zahlen viel mehr, um ihre Freiheit zu erkaufen. Ich bat ihn nicht um Verzeihung für das, was ich ihm angetan hatte, ich benahm mich, als wären bei uns Fingernägel im Fleisch etwas ganz Normales. Falls er von den schwarzen Oliven oder irgendetwas anderem, das sich unter meinen Nägeln gesammelt hatte, eine Infektion bekam, konnte er sich ja bei der Krankenkasse Antibiotika besorgen. Der Arzt wird ihn sehen und sagen, das mit der Hand ist nichts, Sie haben eine viel ernstere Erkrankung …
Eine andere Möglichkeit: Der Arzt wird seine Hand voller Abscheu betrachten und fragen: »Wovon ist das?«
»Von den Fingernägeln meiner Frau.«
»Man muss eine Probe von ihren Nägeln nehmen und sie bakteriologisch untersuchen. Übrigens, ist sie normal, Ihre Frau?«
Er betrachtete die Kuppel der Kathedrale, beschattete mit der verbundenen Hand die Augen, prüfte die Architektur, sein Blick blieb an den Türmen hängen. Der leere, blaue Himmel über den Kupferkuppeln, der Dichtern den Lebensunterhalt bescherte, interessierte ihn nicht.
Ich drängte mich zwischen ihn und die Kathedrale. »Was soll ich dem Jungen sagen?«
Er schloss die Augen, als wären seine Nerven gereizt.
»Dass sein Vater gestorben ist? Verrückt geworden? Weggefahren? Dass er ihn nicht mehr braucht?«
»Ich weiß es nicht. Übrigens, wann hast du dieses Auto gekauft?« Er betrachtete den Mazda und mich mit braungelben Augen, die sauber und leer waren.
»Wieso gekauft? Was ist mit dir? Das ist schon seit vier Jahren unser Auto.« Ich befahl meinen Tränen, sich nicht zu bewegen, ich war noch strenger zu ihnen als vorher, sie sollten in den Augenhöhlen bleiben und nicht in die Arena rinnen, die sowieso übervoll war. Mein Telefon klingelte, mein privater Sicherheitsdienst schickte mir eine Nothilfe, dieses Klingeln war eine Beschäftigung, man musste eine Taste drücken, antworten.
Jonathan fragte, wie es bei der Polizei gewesen sei.
»Bald, Jonathan, ich kann jetzt nicht.«
Mein Mann stand vor mir, im nächsten Moment würde er weggehen, irgendwohin, und ich wusste nicht, ob ich ihm ein Abschiedswort sagen sollte, das zu einem Schwerkranken passte, oder ein Abschiedswort wie für einen, der in den Zug steigt und mir die Sorge für sein Gepäck überlässt.
»Geh zu einem Arzt, Gideon«, sagte ich und drehte mich zum Auto.«
»Du weißt, wie du mich in dringenden Fällen erreichenkannst«, sagte er, und ich fragte nicht, was für ihn dringende Fälle waren. Ein überfahrenes Kind? Ein Gehirnschlag bei einem Verwandten ersten Grades? Ich stieg ins Auto, er betrachtete die Reifen und sagte: »Vorn rechts fehlt dir Luft.«
»Für eine Frau, die alles hat, ist es gut, wenn ihr endlich mal etwas fehlt«, sagte ich, ließ das Auto an und fuhr davon. Gegen meinen Willen schaute ich in den Innenspiegel, das graue T-Shirt verschmolz mit den Zypressen und wurde von ihnen verschluckt, ohne das weiße Taschentuch, mit dem er sich die Wunden verbunden hatte, hätte ich nicht gesehen, ob er noch dort war. Ich erreichte die Ampeln, und noch immer war das weiße Taschentuch zwischen den dunklen Zypressen zu sehen, oder es war nur eine weiße Taube, die dort Schutz suchte.
Warum hatte ich ihm nicht den Segensspruch zu Neujahr und Jom Kippur mit auf den Weg gegeben? Ich erschrak. Wer dachte daran, dass dies die Tage der Reue waren, dass die Erde sich an den Tagen zwischen Neujahr und Versöhnungsfest weiterdrehte und dass es im Himmel eine ständige Sprechstunde gab, die allen offen stand. Ich blieb am Straßenrand stehen und sprach ihm eine Nachricht auf den Anrufbeantworter und schickte eine SMS, für den Fall, dass er Gott nicht vollkommen aus seinem Herzen vertrieben hatte, er sollte diese Gelegenheit nicht verpassen, er konnte noch um Heilung bitten. Früher, in seinen gesunden Tagen, hatte er immer ein kleines Stück Gott in sich bewahrt, eine billige Versicherungspolice mit geringem Einsatz, den Kiddusch am Schabbat gesprochen, Synagogenbesuche an den Feiertagen, Mazzot an Pessach, er hatte sich nicht in die komplizierte Beziehung eingemischt, die ich mit Gott hatte.»Du bist schon ein großes Mädchen, entscheide selbst, ob du für oder gegen ihn bist«, hatte er gesagt, als er noch in der Welt der Entscheidungen und der Urteile gelebt hatte. Seit über dreißig Jahren ist diese Frage für mich offen, und der Angeklagte im Himmel ist
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