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Wodka und Brot (German Edition)

Wodka und Brot (German Edition)

Titel: Wodka und Brot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mira Magén
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nimmt zwei Steine und erklärt dem Jungen, wie ein Stein, der nichts Eigenes besitzt, Licht zurückwirft, das er von woanders bekommt, wie die Rücklichter eines Fahrrads. Er beschreibt ihm die kalte, unfruchtbare Steinwüste, die kaum Schwerkraft besitzt, und nachdem er ihm den nackten, armen Mond erklärt hat, gibt er ihm etwas von seiner verlorenen Ehre zurück und singt das Lied vom Mond, der jede Nacht herunterschaut.
    »Du denkst, dass ich Russin bin, nicht wahr? Alle glauben das.«
    »Kaffee?« Ich erhob mich, um Wasser aufzusetzen.
    »Kakao.«
    Nun, und wenn sie nicht aus Russland kommt? Russland,Kanada, Marokko, Indien, was spielt das für eine Rolle, ob der Bauch, der sie geboren hat, eine Djellaba getragen hat, einen Sari oder ein kurzes, durchsichtiges Chiffonkleid? Das Einzige, was eine Rolle spielte, war, ob das Herz über jenem Bauch sich für sie geöffnet oder zusammengekrampft hatte.
    »Es ist mir wirklich egal, woher du kommst. Kalten oder warmen Kakao?«
    »Kalten. Nur damit du es weißt, ich bin nicht aus Russland. Wenn die Polizisten ein junges Mädchen mit weißer Haut und angetrunken aufgreifen, sagen sie sofort, eine Russin. Ich habe gesagt, von mir aus, soll es so sein. Ich bin zum Innenministerium gegangen und habe meinen Namen geändert. Sie haben mich gefragt, was für einen Namen ich möchte, und ich habe gesagt, Madonna Solschenizyn. Die fromme Angestellte fragte, ob ich sie auf den Arm nehme. Wissen das deine Eltern? Das ist doch egal, es geht dich nichts an, ob sie es wissen oder nicht, habe ich gesagt, tu, was ich gesagt habe.«
    Sie sprach schnell, das R artikulierte sie künstlich, ein falscher Hinweis auf einen Ort, der nicht zu ihrer Vergangenheit gehörte. Ihre Augen funkelten mich an, als wäre ich die Angestellte im Innenministerium, sie schwieg, und es war, als würde ihr der schwarze Lippenstift den Mund brutal verschließen.
    »Wie war dein Name früher?«
    »Mein früherer Name ist tot. Madonna Solschenizyn, so heiße ich.«
    Madonna verschwand, und ich ging zu meinem feuchten Platz auf der Schaukel. Von der Ecke aus, in der sie stand, war das Haus des Alten außerhalb des Blickfelds, er müssteschon eine Wand herausbrechen, um etwas zu sehen. Vor einer Stunde war sie gegangen und ich war endlich allein. Ich überließ mich dem leichten Schaukeln, dem kühlen Gefühl auf dem Kopf, der Stille, die vor so viel Leben vibrierte, dem Schrei einer Eule, platzender Baumrinde, lautem Zirpen, herabfallenden Blättern. Am liebsten wäre ich Teil dieses atmenden Lebens gewesen, unbewusst, ohne nachzudenken, ohne zu planen, ohne Freude und ohne Bedauern. Ich reckte das Gesicht zum Himmel und lud die Sterne ein, auf mich herunterzufallen wie Konfetti bei einer Hochzeit, aber statt der Ferne kamen meine Nächsten auf mich zu, schritten in das offene Bewusstsein, Gideon, Nadav, Maja, Wodka, Madonna, Scha’ul Harnoi, der Alte, sie suchten sich einen Platz und ließen sich im Amphitheater meines Gehirns nieder, drängten und kämpften in meinem Schädel. In diesem Moment hätte ich gerne Whisky getrunken oder etwas anderes Scharfes, um die Geister zu vertreiben. Liebe Madonna Solschenizyn, ich kann kein böses Wort über deine innige Beziehung zur Flasche sagen, im Gegenteil, wenn man keinen anderen Ausweg hat, ist Alkohol ein wunderbarer Retter des Gehirns.
    »Ich gehe«, hatte sie vor einer Stunde gesagt, nachdem sie den Kakao ausgetrunken hatte.
    »Wohin?«
    »In die Stadt.«
    Sie stand auf, schob die Hände aus den Ärmeln ihres Jacketts, breitete die Arme zur Seite, und unter ihrem Unterhemd war ihre flache, kindliche Brust zu erkennen.
    »Du bist noch keine achtzehn«, sagte ich.
    »Warum? Was ist? Hast du noch nie ein Mädchen mit kleinen Brüsten gesehen?«
    Sie senkte den Blick auf ihre bescheidene Brust und schlug ihr Jackett zusammen, um das beleidigte Körperteil zu verdecken.
    »Schade, ich hätte Wodka gern gesehen«, sagte sie. Ich sagte ihr nicht, dass der kleine Hund, der noch nicht gelernt hatte, draußen zu pinkeln, die Nacht bei einer gewissen Nadja verbringen würde. Ohne Dank und ohne Abschied machte sie die Tür auf und verschwand. Nur Gott wusste, in welche Räuberhöhle sie ging und wo sie Alkohol in ihren dünnen Körper füllte. Und dennoch – als sie Wodka hierhergebracht hatte, hatte sie ihn an ihren Körper gedrückt, als wäre er ein Baby, das sie stillte, und er, in ein Tuch gehüllt, war ruhig gewesen und hatte ihr vertraut. Man könnte weinen, wenn man

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