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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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auf, und der Mond steigt in den Himmel, wird im Aufgehen immer heller, vermittelt ihm aber auch ein Gefühl der Exponiertheit. Als er zu ihm hochschaut, erinnert er sich an das Glasauge der Leiche und stellt es sich an der Stelle des Monds vor, wie es ihn von dort oben mit einem unheimlichen Blick beobachtet, der ihm bis ins Innerste schaut und seine Angst sieht und sie genießt.
    Alle Bäume sind erstaunlich dick und hoch, sie stehen schon lange da und sind bis jetzt von Feuern und Holzfällern verschont geblieben – bis morgen. Er geht schnell zu dem größten, den er in der Nähe findet, einer Goldkiefer mit einem aufgesprühten X. Um die Wurzeln herum breitet sich ein Teppich aus braunen Nadeln aus, die unter seinem Gewicht knistern. Er erstarrt wie ein Eindringling, der auf eine knarzende Diele getreten ist. Er steht da und lauscht angestrengt, aber ihn umgibt nichts außer Stille.
    Bevor er zu klettern anfängt, konzentriert er sich kurz auf das X und überlegt, wie es sich wohl anfühlt, von einer Säge verschlungen, von Schmirgelpapier geglättet und irgendwo zu irgendwas zusammengenagelt zu werden, vielleicht auch lackiert und graviert mit hübschen Mustern, erneuert, mit einem zweiten Leben beschenkt – ja, dieses Bild will er sich behalten, es in die Tasche stecken und bei sich tragen, während er versucht, diese Nacht zu überstehen.
    Die tiefsten Äste hängen fünf Meter über dem Boden. Er muss sich am Stamm bis zu ihnen hocharbeiten. Er hängt sich sein Gewehr diagonal über den Rücken. Dann springt er den Baum an und schlingt Arme und Beine um den Stamm. Die Rinde reibt an seinen Wangen und Handflächen, den Innenseiten seiner Handgelenke. Das Gewehr drückt schmerzhaft aufs Rückgrat und er flucht, weil er weiß, er hätte den Gurt lockern sollen. Der einzige Geruch ist die scharfe Würze von Harz und Kiefernnadeln. Zwischen den Schuppen der Rinde sind schmale Ritzen, und er krallt die Fingerspitzen hinein, versucht, Halt zu finden, wo es nur geht, um nicht abzurutschen.
    Seine Arme und Beine zittern bereits, die Muskeln versagen noch nicht ganz ihren Dienst, aber fast. Langsam schiebt er sich den Baum hoch, er greift und rutscht und ächzt und blu tet und schwitzt, bis der erste Ast in Reichweite kommt, nur noch einen knappen halben Meter von seinem Kopf entfernt. Es ist ein Risiko, den Arm jetzt auszustrecken und danach zu greifen. Wenn seine Handfläche zu feucht ist oder seine Muskeln versagen, stürzt er zu Boden, wo er sich vielleicht einen Knöchel bricht oder hilflos nach oben starrt, weil er sich nicht vorstellen kann, noch einmal zu klettern.
    Er klammert die Beine fester um den Stamm. Seine Hand steigt zitternd von ihrem Halt am Stamm in die Höhe und krümmt die Finger so fest um den Ast, dass die Gelenke knacken. Er spürt, dass ihm etwas über den Handrücken krabbelt, eine Spinne. Instinktiv hätte er beinahe losgelassen, aber er schafft es, sich zu beherrschen und spannt den Bizeps an und zieht sich in die Höhe, bis er den anderen Arm um den Ast schlingen kann. Seine Beine lösen sich vom Stamm und baumeln in der schwarzen Luft. Die Mündung seines Gewehrs streift seinen Hinterkopf, und er merkt, dass er vergessen hat, es wieder zu sichern. Der Gedanke, dass eine Kugel in seinen Schädel dringt, lässt ihn kurz erstarren und einmal tief durchatmen.
    Dann zieht er sich, jeden Muskel in seinem Körper aufs Äußerste angespannt, hoch, bis er sich über den Ast wuchten kann, so dass der Oberkörper auf der einen Seite hängt, die Beine auf der anderen. Das Hemd ist ihm weggerutscht, und die Rinde reißt ihm Bauchhaare aus und schürft die Haut ab. Er versucht zu atmen, doch wegen des Drucks auf seinen Bauch kommt der Atem nur in kurzen Stößen. Jetzt hat er überall um sich herum Äste. Er greift nach einem, schätzt aber die Entfernung falsch ein und verliert beinahe das Gleichgewicht, als seine Hand durch Nadeln und Luft zischt. Der Boden unter ihm scheint an- und abzuschwellen, während er auf dem Ast schaukelt. Er streckt den Arm wieder aus, doch diesmal vorsichtiger, bekommt einen starken Ast zu greifen und zieht sich an ihm hoch, bis er sich, jetzt beide Hände am oberen Ast, auf den unteren hocken kann. Das Gewehr klappert gegen den Stamm, und mit einigen Schwierigkeiten nimmt er es ab und sichert es und klopft dann auf den Stock, wie er einem Begleiter, mit dem er eine Gefahr überstanden hat, auf den Rücken klopfen würde.
    Er rastet eine Weile, bis sein Atem sich wieder

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