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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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aufgereihten Schuhe, der Jacken auf den Haken. Da ist der vertraute Geruch nach Nudeln und Leder und Papier. Er kennt dieses Haus. Es fühlt sich schon fast wie ein Zuhause an.
    Er macht einen Schritt vorwärts, in diesen Übergangsbereich, vor ihm erstreckt sich der Gang, und links und rechts gehen Türen ins Wohnzimmer oder ins Esszimmer ab. Aus dem Augenwinkel heraus sieht er die Uhr des Videorekorders blinken – rot, rot, rot, wie eine Warnleuchte. Offensichtlich ist sie nach dem Sturm, der vorgestern durch den Ort fegte und die Stromversorgung lahmlegte, nicht mehr gestellt worden.
    Sehr langsam bewegt er sich durchs Haus, schiebt langsam die Füße vorwärts, setzt langsam sein Gewicht auf, achtet darauf, dass sein Stiefel nicht gegen einen Beistelltisch stößt oder eine Diele knarzen lässt. Er setzt sich auf die Couch. Sanft berührt er die Stacheln eines Kaktus ’ . Er steht vor einem Hirschkopf an der Wand und starrt in seine großen, glasigen Augen und berührt eins davon, bevor er mit der Hand am Hals entlangstreicht, wo das Fell trocken und rau ist. Er schaut in die kalte Höhle des Kühlschranks. Er streicht mit den Fingern über die Arbeitsflächen. Er nimmt ein Glas mit einem Lippenstiftfleck zur Hand, das neben dem Spülbecken steht. Die Rose, die darin steht, legt er beiseite, bevor er das Glas an den Mund hebt und daran schmeckt. Er pisst in die Toilette, setzt sich dazu hin, um kein Geräusch zu machen. Er riecht an der Zahnpasta. Ins Zimmer des Jungen schaut er hinein, betritt es aber nicht. Im Arbeitszimmer blättert er in einem Stapel Papiere und hält sie gegen das Mondlicht, das durchs Fenster fällt, und steht dann neugierig vor dem hölzernen Kinderbettchen, bevor er zum Schlafzimmer geht.
    Er erinnert sich daran, wie sein Vater immer wieder versuchte, einen Biber zu fangen, es aber nie schaffte und schließlich voller Wut ihren Damm zertrat und die Tiere, die ihn aus ihrem feuchten, dunklen Bau heraus anfauchten, mit einem Baseballschläger erschlug. Als er jetzt, umgeben von Dunkelheit, in ihrer Tür steht und sich zugleich stark und verletzlich fühlt, stellt er sich vor, zugleich der Schläger und der Biber zu sein.
    Am Türknauf hängt ein lila BH . Er reibt ihn zwischen den Fingern. Unter der Bettdecke erkennt er ihren Umriss. Er hört den langsamen Rhythmus ihres Atems. Er macht einen Schritt ins Zimmer und glaubt, einen Wecker zu sehen, der auf dem Nachtkästchen blinkt – doch als er den Kopf in diese Richtung dreht, huscht das Licht von ihm weg und immer weiter weg, als er versucht, ihm nachzuschauen, es ist immer in seinem Augenwinkel, ein rotes Blinken.
    »O nein«, sagt er ins Zimmer. Er fasst sich an die Stirn und massiert die Delle. Das Blinken wird intensiver rot. Und jetzt spürt er den ersten der vielen schmerzhaften Drähte, die sich an seiner Wange, seiner Kehle, seinem Arm entlangwinden. Der Kopfschmerz hat sich an ihn herangeschlichen. Er hat ihn nicht bemerkt, zu sehr war er zuerst mit dem Wald, dann mit seinen Gedanken beschäftigt – und jetzt ist er da, streckt sich und will unbedingt wachsen.
    So leise es geht, kehrt er in die Diele zurück und findet seine Beine plötzlich schwer. Er stößt gegen die Wand und klammert sich am Türgriff fest, um sich aufrecht zu halten. Er taumelt durch die Diele und versucht, sich an den Weg zu erinnern, aber der Kopfschmerz lässt es nicht zu. Da ist nur noch ein pulsierender roter Stern, der mit seinem Licht alles auffrisst. Er taumelt in ein Zimmer, das Zimmer des Jungen. An der Decke leuchten aufgeklebte Planeten und Sterne, die Sternbilder verschwimmen vor seinen Augen. Er will nur noch ins Bett springen und die Decke über den Kopf ziehen, aber sogar jetzt weiß er noch, dass er das nicht tun darf. Er geht in äußerste Dunkelheit. Er geht in den Wandschrank und zieht die Tür hinter sich zu.
    Er verzieht das Gesicht und stellt sich ein hässliches schwarzes Netz vor, das sich über Hals und Arme und das Geflecht seiner Adern ausbreitet, während seine Überraschung nachlässt und der pulsierende Schmerz ihn nun ganz durchströmt wie Elektrizität. Nur noch ein Arm scheint zu funktionieren, und damit stützt er sich ab, um sich hinzusetzen und den Rücken gegen die Schrankwand zu lehnen. Erst dann kann er die Augen schließen und sich vom Schmerz überwältigen lassen.

JUSTIN
    Er hat eine halbe Stunde gebraucht, um auf den Baum zu klettert, aber bei Weitem nicht so lange, um wieder herunterzukommen. Der Ausblick von

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