Wölfe der Nacht
beruhigt hat und das Brennen in seinen Muskeln nachlässt, und dann späht er zum Lagerfeuer hinunter. Graham steht eben auf und starrt in Justins Richtung. Justin winkt, obwohl er weiß, dass Graham ihn wahrscheinlich nicht sehen kann. Dann hängt er sich das Gewehr wieder um und macht sich an den Aufstieg. Der Baum scheint sich endlos über ihm zu erheben. Er windet sich durch die Äste, hält immer wieder inne, um Stand und Griff zu optimieren, sich den nächsten Ast auszusuchen und sich die beste Route zu überlegen. Der Mond wirft ein Klöppelmuster durch die Äste.
Bis jetzt war im Schutz der dicht stehenden Baumkronen kein Wind zu spüren, die Luft stand förmlich, doch als er weiterklettert, aus der Dunkelheit des Waldes auf- und in die Dunkelheit des Himmels eintaucht, frischt der Wind böig auf, trocknet ihm die Augen aus und lässt sie gleichzeitig tränen, bringt den Baum zum Schwanken und trägt den Gestank eines entfernten Stinktiers oder etwas Ähnlichem heran, einen süßlichen, ekelerregenden Geruch.
Über den Baumwipfeln wölbt sich der Himmel, unermesslich riesig und schwarz.
In der Ferne öffnet der Canyon sich zur Wüste hin. Er kann die Silhouetten der Cascades sehen, so winzig in dieser Ferne, ihre Zacken und Gletscher glänzen im Mondlicht, ansonsten aber sind sie dunkel. Ihr Anblick schenkt ihm dieselbe orientierende Erleichterung, die ein Reisender in einer fremden Stadt spürt, wenn er zum vertrauten Gesicht des Monds hochschaut.
Unterhalb des Gebirges entdeckt er diese winzigen Universen des Lichts – Bend und Redmond und Prineville –, John Day ist das nächstliegende. Mit einer Hand klammert er sich am Stamm fest, zieht sich mit der anderen das Gewehr von der Schulter und sucht sich dann einen sicheren Stand, um durch das Zielfernrohr die stumme Wildnis der Häuser zu betrachten, die hellen Blocks und Gebäude, umgeben von Flüssen der Schwärze. Im schimmernden Zittern des Lichts meint er Scheinwerfer zu erkennen, die sich über Straßen und Highways bewegen, einige beim Einfahren in Parkplätze oder Garagen, andere unterwegs ins offene Land. Dort ist, so weit entfernt, so sicher und so friedlich, die kleine Welt, in der er bisher so behütet gelebt hat. Und dort, weit, weit weg, entdeckt er einen Mobilfunkturm, dessen rot blinkendes Signallicht tief fliegende Maschinen warnt. Doch als er sein Handy aus der Tasche zieht und es einschaltet, zeigt der grüne Schein des Displays nur die Meldung: SIGNALSUCHE . Als es nach einer Minute noch immer kein Signal gefunden hat, wird ihm beinahe schlecht vor Panik. Er ist komplett außerhalb des Netzes – als wäre er aus der Zeit gefallen.
Von hier oben wirken die Baumwipfel so dicht und fest, dass man darauf gehen könnte, und einen Augenblick lang überlegt er ernsthaft, über diesen grünen Baldachin zu laufen, nur um irgendwie von hier wegzukommen. Er will nur nach Bend zurückkehren. In Bend war alles immer gut und sicher. In Bend werden sie über das alles lachen.
Er stürzt beinahe und fängt sich an einem Ast ab, und ein Schwindel überkommt ihn so heftig, dass er kaum noch weiß, wo er ist, scheint doch die Zivilisation so nah und ist so weit entfernt.
BRIAN
Zu der Zeit war das CSH -Bagdad das einzige Krankenhaus, das Verletzungen schwersten Grads behandeln konnte. Siebenundsiebzig Betten, drei Orthopäden, zwei Neurochirurgen, zwei Notärzte, ein Gefäßchirurg, ein Radiologe, ein Psychologe, ein Neurologe. Eine ganze Horde Anästhesisten und Krankenschwestern. Sie behandelten jeden, von Soldaten der USA oder der Koalition bis zu irakischen Soldaten, Zivilisten und Gefangenen, und sie behandelten alles, von Zahnschmerzen bis hin zu Vorfällen mit einer Vielzahl von Opfern, bei denen Körper zerrissen oder Schädel durchlöchert wurden, wie es bei Brian der Fall war.
Auch nachdem er sich an den Schock gewöhnt hatte, ein Loch im Kopf zu haben, blieb ein merkwürdiges Gefühl, das noch verstärkt wurde durch die Merkwürdigkeit seiner Umgebung, ein weißes Bett in einem weißen Zimmer voller weißer Betten, in denen Soldaten in weißen Verbänden wie in Kokons lagen. Nach dem Aufwachen aus dem roten Nebel der Operation hätte er am liebsten geschrien, die Augen geschlossen und sich gew eigert, seine Lage zu akzeptieren. Das dauerte ein paar Minuten, und dann danach war er noch da und das Weiße und das Blut, das durch das Weiße sickerte und der Schmerz in seinem Schädel waren nicht verschwunden und letztendlich konnte er das
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