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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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dort oben hat ihm frische Kraft gegeben, ihn daran erinnert, dass außerhalb dieses Canyons noch eine andere Welt existiert. Er hangelt sich von Ast zu Ast, sinkt beinahe zwischen ihnen hindurch, und als er die untersten Äste erreicht, kauert er sich kurz hin und mustert den ihn umgebenden Wald, späht in die dunklen Türen zwischen den Bäumen.
    Nichts rührt sich. Stille hat sich über den Canyon gelegt. Als er sich das letzte Stück den Stamm hinunterlässt, streift er mit der Hand über das aufgesprühte X und spürt den harten Harzklumpen, der daraus hervorgequollen ist. Er merkt, dass es der Baum ist, auf den Graham geschossen hat – war das gestern? Gestern scheint so lange her.
    Dreißig Meter entfernt steht Graham im Lichtkreis des Feuers, die Waffe schussbereit in der Hand. Für den Augenblick scheint alles sicher zu sein. Deshalb gräbt Justin hastig mit den Händen ein Loch und wirft die Erde beiseite, bis die Patronenhülse von gestern in seiner offenen Hand liegt und dann in Grahams, als Justin zur Feuergrube zurückkehrt und sie ihm gibt.
    »Noch da. Wie er gesagt hat.«
    Das scheint Graham ein wenig zu trösten. Er lächelt mit geschlossenen Lippen und hält sich die Hülse an den Mund und bläst darauf. »Am liebsten hätte ich jetzt eine silberne Kugel«, sagt er. »Und einen Holzpflock. Und einen Rosenkranz. Und eine Bazooka.«
    »Wünschen kann man sich leicht was, wenn man in einer solchen Situation ist.«
    »Hast du angerufen?«
    Justin schüttelt frustriert den Kopf und lächelt gegen die schlechte Nachricht an. »Kein Glück.«
    Die Augen dunkel umrandet, die Schultern hängend vor Erschöpfung, starrt Graham die Patronenhülse an. »Und, brechen wir jetzt auf?«
    »Wir warten noch ein bisschen. Er muss jetzt jeden Augenblick kommen.«
    »Wie lange noch? Wie lange sollen wir noch warten?«
    »Nicht lange. Bis er kommt.«
    So sitzen sie da, suchen die Dunkelheit ab und warten in quälender Untätigkeit. Graham fasst nach Justins Hand, und der Kontakt fühlt sich gut an, beruhigend, eine Möglichkeit, sich gegen den Canyon zu stemmen, der so tief und kalt und dunkel ist und dessen hoch aufragende Wände auf sie zustürzen, als wollten sie sie gleich verschlingen wie ein Maul.
    Justin nimmt sich noch ein Holzscheit und wirft es ins Feuer, mit ein wenig zu viel Schwung, so dass eine Funkenwolke aufsteigt. Das Holz ist trocken und porös, und wenige Sekunden später lodern die Flammen mit leisem Brausen hoch und werfen orangenes Licht auf die Canyonwände und die dunkleren Ecken des Walds. Aus dem der Bär tritt.
    In einem Augenblick war er noch nicht da und im nächsten ist er es, als hätte sich im Gewölbe der Nacht eine Falltür geöffnet und ihn nur zwanzig Meter entfernt am Rand der Lichtung abgesetzt. In den Hitzewellen des Feuers flirrt der B är wie etwas Unwirkliches. Bevor Justin bewusst wird, wie erschrocken er ist, kommt der Bär auf sie zugelaufen. Er bewegt sich schwankend, der riesige, dreieckige Kopf hebt und senkt sich, und mit jedem Nicken kommt er beängstigend näher. Justin sieht den grotesken Wulst zwischen seinen Schultern. Trotz der dicken Fettschicht sind die Muskeln deutlich zu sehen, sie bewegen sich unter dem Fell wie in einem Sack gefangene Tiere.
    Justin denkt daran, was Graham gesagt hat, dass Bären einhundert Meter in neun Sekunden zurücklegen können. Im Augenblick scheint das eher konservativ geschätzt, denn der Abstand zwischen ihnen schwindet rasant. Neben sich hört Justin ein Jaulen. Er erkennt es kaum als Schrei. Graham schreit. Justin weiß, dass er es auch tun sollte, aber er kann nur zusehen, wie der Bär sich der Umrandung der Baumstämme nähert und sich aufrichtet und so zu einer breiten braunen Säule aus Fell wird.
    Justin kommt sich so klein vor, und jetzt bückt er sich und zieht Graham zu sich, unter sich und wartet, dass eine Pranke auf sie niedersaust. Doch im letzten Augenblick macht der Grizzly kehrt und fällt auf alle vier Pfoten, um davonzutrotten. Wie bei einem Sattelschlepper hat seine gigantische Masse die Luft bewegt, kurz biegt das Feuer sich zur Seite, bevor es sich wieder aufrichtet.
    Das Feuer ist zwischen ihnen und dem Bären. Justin hat sich vor Graham gestellt. Er greift zu seinem Gewehr und macht sich bereit für einen zweiten Angriff.
    Als der Bär den Waldrand erreicht, dreht er sich noch einmal zu ihnen um. Er senkt den Kopf und lässt ein tiefes Knurren hören, das klingt wie ein leerlaufender Motor, der ihren Untergang

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