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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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ihre Beine, so dass sie kaum wissen, wo sie die Füße hinstellen. Überall um sie herum sammeln sich unsichtbare Bedrohungen, Schatten.
    Justin streckt die Hand nach Graham aus, damit ihre Finger sich verflechten, und sie beieinanderbleiben. Sehr schwach spürt Justin den Herzschlag seines Sohns in dessen Fingerspitzen. Seine Aufgabe ist es, den Jungen aus dem Canyon zu führen, und er weiß, dass er es schnell und entschlossen tun muss. Zuerst laufen sie – und als sie nicht mehr laufen können, gehen sie. Ihre Stiefel fühlen sich an, als wären sie voller Blei. Sie atmen in schweren Zügen, als sie den steilen Anstieg der Straße hochgehen und dabei das Gefühl nicht loswerden, dass irgendetwas ihnen folgt. Justin kommt nicht gegen das Gefühl an, dass der Bär irgendwo in ihrem Rücken herumhüpft, vielleicht einen Bärentanz aufführt und sich diebisch freut, dass er sie, verängstigt in der Dunkelheit, so nahe vor sich hat.
    Vor ihnen teilen sich die Bäume und geben ihnen mehr Raum, doch wenn er sich über die Schulter schaut, scheinen die Äste sich zu verknoten wie Finger und ihnen keine andere Wahl zu lassen, als weiterzugehen, ganz gleich, wie gerne er jetzt zur scheinbaren Sicherheit des Feuers zurückkehren würde.
    Seine Brust fühlt sich an, als hätte sich dort Staub in der Form seines Herzens zusammengeballt. So dünn ist sein Mut, dass ein einziger Atemzug ihn zerbrechen und durch die Rippen in die Luft blasen könnte.
    Als ein großes, schweres Flügelschlagen aus einem nahen Baum kommt – mit Sicherheit eine Eule –, schreit er auf, obwohl er seinem Sohn zuliebe sein Entsetzen unterdrücken möchte.
    Frösche trommeln. Zikaden zirpen. Ein dünner Bach läuft über die Straße, und der Mond malt einen milchigen Kreis darauf, durch den sie stapfen. Irgendwann stolpert sein Sohn und schreit auf, und Justin fängt ihn auf und zieht ihn weiter.
    Hin und wieder bleibt er stehen und lauscht mit schief gelegtem Kopf, und sein Sohn tut es ebenfalls. Nicht über die Schulter zu schauen ist unmöglich. Sooft er kann, wirft er einen kurzen Blick auf den Wald, auf die Straße hinter sich und erwartet einen dunklen Umriss, der ihnen folgt. Aber der Wald ist zu schwarz, um ihm etwas anderes zu sagen als: lauf, lauf, lauf.
    Wohin er geht, folgt ihm sein Sohn. Sie sind in der Gewalt des Walds. Sie lauern und schauen und laufen und verstecken sich. Der Instinkt hat die Herrschaft übernommen.
    Als sie schließlich den Canyonrand erreichen, hört Justin neben sich ein leises, scharfes Geräusch, als würde jemand eine Klinge über Holz ziehen. Er bleibt stehen, lauscht in die Richtung des Geräusches und merkt, dass es von seinem Sohn kommt. Er steht vornübergebeugt da, hat die Hände auf die Knie gestützt und versucht zu atmen. Rasselnd zieht er Luft ein und stößt sie wieder aus. »Wo ist dein Inhalator?«, fragt Justin und klopft ihm seine Jeans, die Taschen ab, findet dort aber nur Nässe, denn sein Sohn hat sich in die Hosen gemacht vor Angst.
    »Ich hab –« Graham bricht ab, um ein paarmal Atem zu holen. »Ich hab ihn nicht.« Er setzt sich mitten auf die Straße. Er scheint seine Atmung nicht unter Kontrolle zu haben, seine Brust scheint sich nach ihrem eigenen Willen zu bewegen, die Luft in kleinen, abgehackten Einatmungen und Ausatmungen in ihn hinein- und aus ihm herauszupumpen. Er hält sich die Hände an die Kehle, als wollte er sich erdrosseln.
    Wahrscheinlich zum tausendsten Mal an diesem Tag schaut Justin sich über die Schulter. Die Straße, denkt er, ist leer. Sie zurückzugehen, scheint unmöglich weit – um nicht zu sagen, Wahnsinn –, aber das scheint auch das Weitergehen in die andere Richtung, durch die Ochocos, eine so lange Strecke, bis sie endlich Asphalt wird und dann in einen Highway mündet, über den Lastzüge donnern.
    Justin hätte den Jungen nie zu diesem Ausflug mitnehmen dürfen. Er hätte seinen Vater nie in den Wald davongehen lassen dürfen. Anstatt durch die Nacht zu hasten, in eine unbekannte Gefahr, hätte Justin auf ihn warten und das Feuer schüren sollen, um die Nacht abzuwehren.
    In diesem Augenblick sieht er in einiger geschwärzter Entfernung das schwere Gerät. Einen Forstschlepper. Ein Bulldozer. Einen Bagger. Einen Schaufellader. Zwei Frontlader. Der Mond glänzt auf ihren Fenstern und lässt die metallenen Schaufeln und Greifer funkeln. Er packt Graham bei der Hand und stolpert auf sie zu – obwohl er nicht so recht weiß, wieso. Vielleicht weil sie, so

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