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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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eng beieinanderstehend, wie eine Festung wirken, in der sie sich verbarrikadieren können, oder vielleicht, weil sie symbolisieren, wonach er sich so verzweifelt sehnt – Zivilisation, genau das, was die Wildnis, die sie verfolgt, einzudämmen und zu vernichten verspricht.
    Sie drücken sich an den Schaufellader. Justin setzt sich auf den Boden und lehnt den Rücken an den großen Reifen, und Graham setzt sich, den Rücken an seiner Brust, zwischen seine Beine. Bei jedem Atemzug macht er ein leises, grollendes Geräusch. Als Justin ihn an sich drückt, spürt er das Grollen an seiner eigenen Brust. »Alles okay«, sagt Justin. »Alles okay.« Grahams Körper fängt an zu zittern und sich zu winden auf eine Art, die Justin an die Schlange erinnert. Er weiß noch so gut, wie sie sich, sogar mit dem Loch im Kopf, noch schlängelte und sich zu vielen ungewöhnlichen Mustern verformte. Er stieß sie mit dem Stiefel an und nahm sie sogar in die Hand und spürte den harten, kalten Muskel lebendig und tot in seiner Hand. Als sie nach fünf Minuten noch immer nicht erschlaffte, fühlte er sich belästigt und wollte sie unter einen Stein legen, damit er sie nicht mehr ansehen und nicht mehr an sie denken musste.
    Was gar nicht so verschieden ist von dem, wie er sich jetzt fühlt, während er Graham hält und ihm »Psch« ins Ohr flüstert und über die Haare streicht, und sich dabei aufmerksam umschaut und sich wünscht, er wäre woanders. Er versucht zu vergessen, was mit seinem Vater passiert sein könnte, die Dunkelheit zu vergessen und die Bedrohung, die in der Dunkelheit lauert, während er seinen Sohn umklammert und seine Lunge besänftigt, bis Graham endlich, nach vielen Minuten, einmal tief und ruhig durchatmet, und Justin sagt: »Gut. Das ist gut.«
    Er kann atmen. Und wenn er atmen kann, kann er leben. Das ist doch was. Justin umschließt ihn mit seinen Armen und drückt ihn so fest an sich, wie er kann. In diesem Augenblick schießen ihm mehrere Bilder durch den Kopf – seine Frau, die zusammengerollt und mit einer durchnässten Binde zwischen den Beinen in einem Krankenhausbett liegt –, sein Vater, der zusammengekrümmt am Rand eines Canyons steht, mit einem kranken Herz, das unregelmäßig schlägt. Die vereinten Verluste und Gewinne der Vergangenheit und der Gegenwart wühlen eine Woge der Gefühle hoch, die ihn jetzt überrollt. Einen Augenblick lang denkt er, es könnte mehr sein, als er bewältigen kann.
    Dann dreht sein Sohn den Kopf, um ihn anzuschauen, und er kann sein Gesicht gerade noch erkennen, ein verschwommenes Oval. »Hörst du etwas?«, fragt er flüsternd.
    Er hört nichts. Anfangs nicht. Dann strengt er die Ohren an, um jedes Geräusch im Wald wahrzunehmen, und hört in der Nähe Schritte, die sehr schwach wie grabende Schaufeln klingen.
    Sie stehen beide auf. Justin atmet einmal tief durch, um sich zu beruhigen, und die Atemluft ist voll des Geschmacks und Geruchs von Grahams Urin. Ihm fällt ein, wie gut die Nase eines Bären im Vergleich zu seinen Augen ist – so dass der scharfe, saure Geruch für ihn so etwas ist wie eine Fährte aus Brotkrumen.
    In diesem Augenblick schieben sich Wolken vor den Mond. Nun herrscht beängstigende Dunkelheit. »Ich kann überhaupt nichts mehr sehen«, sagt Graham. Justin hebt sich die Hand vor die Augen, und kann sie nur undeutlich erkennen und nur, wenn er die Finger bewegt. Ein unsichtbarer Hitzehauch weht über ihn – ein Atem, da ist er ganz sicher –, der ihn rückwärts taumeln lässt.
    »Dad?«, fragt Graham mit Panik in der Stimme, und Justin sagt: »Ich bin hier.« Dann geben die Wolken den Mond wieder frei, und in seinem blauen Licht sehen sie nur ihre verängstigten Gesichter und den Maschinenpark auf einer von Bäumen gesäumten Lichtung.
    Justin fragt Graham, ob er zum Weitergehen bereit ist, und Graham sagt Ja, er ist es. Mit einer Mischung aus Angst, Wagemut und Vertrauen schaut er Justin in die Augen, und er würde ihn am liebsten immer an sich drücken und alles Schlechte von ihm abhalten. Gemeinsam gehen sie los, kurz ein wenig erfrischt, bis am anderen Ende der Lichtung ein kaum zu sehender Schatten lebendig wird und auf sie zukommt. Immer deutlicher wird er, der breite, dreieckige Kopf, der feucht stachelige Pelz, die schwankende Masse des Bären.
    Sie bleiben stehen, und er ebenfalls, er passt sich ihren Bewegungen an. Seine Gestalt scheint zu wabern, ist vom Wald fast nicht zu unterscheiden, seine Bewegungen sind wie die Bewegungen

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