Wölfe der Nacht
bedeutet, wenn er sich in Bewegung setzt. Als er wieder auf sie zukommt, tut er es als zitternder Vorhang aus zimtfarbenem Fell. Sie schreien nicht. Sie sind zu fasziniert von dem Anblick, um zu schreien. In der Stille spürt Justin die Kraft seiner Schritte, jeder Schritt ist wie ein Schlag mit einem Gummihammer, wie das wütende Schlagen eines Herzens mit Kammern so groß wie ein Ballsaal.
Als der Bär den Lagerrand erreicht, hebt er die Pranke – die Klauen sind lang und gelb – und schlägt damit gegen den Baumstamm, auf dem Graham gesessen hat. Ein splittriger Riss öffnet sich, und der Stamm rollt ins Feuer. Sie springen zurück, als das Holz die glühenden Scheite trifft und ein Funkenregen sie umwirbelt. Der Bär kehrt zu seiner Ausgangsposition zurück. Als er zum dritten Mal auf sie zustürzt, weiß Justin, dass es ernst ist, denn er stößt ein tiefes Knurren aus, das alles Licht aus der Luft zu saugen scheint und ihre Gesichter mit Ruß beschmiert.
Erst jetzt wird ihm das Gewicht der Waffe in seiner Hand bewusst. Er kann drei Schüsse abfeuern, aber er zielt schlecht, und die Kugeln pfeifen in die Nacht. Der Lärm erschreckt den Bären. Er wird langsamer und reißt den Kopf hin und her, als wollte er die Kugeln aus der Luft fangen. Der Bär ist so nahe, dass Justin die Speichelfäden sehen kann, die an seinen Lefzen schwingen.
Er hält die Waffe vor sich ausgestreckt, wirft Messing aus, lädt die Kammer nervös mit einer Patrone aus seiner Tasche und drückt so hastig ab, dass das Visier beim Rückstoß sein Auge trifft und die Braue aufreißt. Einen Augenblick lang sieht er nur Weiß – und dann eine Röte, durch die hindurch die Welt wieder scharf wird. Der Bär wirbelt herum und verschwindet im Wald; er ist getroffen, aber Justin weiß nicht wo. Kurz bevor er in einer dunklen Kieferngruppe verschwindet, wirft er noch einen Blick über die Schulter. Es scheint, als wollte er ihnen mit seinen obsidianschwarzen Augen eine Botschaft übermitteln.
Ein dünnes Blutrinnsal läuft Justin über die Wange. Er wischt es mit dem Unterarm weg, der sich rot verfärbt. Das Fleisch um das Auge herum schwillt bereits an, so dass er nur durch ein halb geschlossenes Lid sehen kann. Er schaut Graham an: Sein Mund ist ein großes schwarzes O. Seine Zunge bewegt sich, versucht, etwas nach vorne zu den Lippen zu schieben, es ist ein Fluch: »Verdammte Scheiße.« Es ist der Fluch eines Jungen, der sich von der Welt überwältigt fühlt. Als er auf Justin zugeht, wischt er sich die Augen und macht ein Gesicht, das normalerweise in Tränen ausbricht, aber er weint nicht.
Aus dem Wald kommt Grunzen und Knurren. Das Geräusch brechender Äste. Geräusche, die man jede Nacht hören kann oder auch nicht. Ein Knacken. Ein Rascheln. Die Finger des Feuerlichts reichen nur eine gewisse Strecke, und dann übernimmt die Einbildung. »Wir gehen jetzt besser.«
»Ohne Grandpa«, sagt Graham, und dann sanfter: »Ohne ihn.«
Ein Geräusch erhebt sich und breitet sich über sie aus, als würde die Erde selbst stöhnen. Der Bär. Fünfzig Meter entfernt, vielleicht näher, vielleicht weiter weg. Das Geräusch ist wie eine subtile Kraft, die Justin zurückstößt, in ihm den Wunsch weckt, wild in die Dunkelheit zu feuern.
»Wir brechen ohne ihn auf.« So. Jetzt hat er es gesagt. Er ist nicht traurig, weil er jenseits von Traurigkeit ist; vielleicht kommt sie später wieder. Im Augenblick ist in ihm nur Platz für die Sicherheit seines Sohns. Er versucht, seinen Atem zu beruhigen, zu verhindern, dass sein Gesicht sich zu einer Fratze der Angst verzerrt – aber diese Angst, die wie eine schwarze Spinne ist, die unter seinem Kissen hervorkriecht, hat sein Blut gefunden, ist in seinem Blut. »Jetzt komm schon.« Als er seinem Sohn verärgert winkt, sieht seine Hand aus wie eine Klaue, die die Luft zerreißt.
Seine Angst treibt sein Herz zu einem schnellen Schlagen, das zum Tempo seiner Füße auf dem Boden passt. Sie fangen an zu laufen, aber auf die träge Art, wie man manchmal im Traum läuft, wenn der Boden an den Stiefeln klebt und die Luft einen umwirbelt, dass man sich vorkommt, als würde man sich in Zeitlupe bewegen.
Über allem anderen spürt er die Angst und dann den Stress, über Steine zu stolpern und gegen Bäume zu stoßen, als sie über die Wiese laufen und dann dem verschwommenen Band der Forststraße folgen. Mächtige Drehkiefern erheben sich neben ihnen, hinter ihnen rauscht der Fluss und die Dunkelheit wirbelt um
Weitere Kostenlose Bücher