Wölfe der Nacht
von Blättern in einem kräftigen Wind.
Dann macht Justin einen Schritt vorwärts, und der Bär, entweder um ihn zu verspotten oder herauszufordern, macht dasselbe, er bewegt sich ins Mondlicht und sein breiter Kopf erhebt sich über einem silbern gestreiften Rumpf. Trübe Augen werden sichtbar, die sich auf ihn richten, wie ein paar schwache Taschenlampen tief in einer Höhle. Er öffnet das Maul und knurrt in seiner kehligen Sprache. Jetzt geht Justin einen Schritt zurück, und der Bär einen Schritt vorwärts. Er erinnert sich an Grahams Buch und schaut auf seine Ohren. Sie sind entsetzlich klein.
Graham gibt ein Wimmern von sich, und der Bär weicht zurück und verschmilzt mit den Schatten. Hinter den Fahrzeugen stehend, hört Justin seinen schweren Atem und das Donnern seines Gewichts, seiner regelmäßigen Schritte. Er drückt seinen Sohn an den riesigen Reifen des Schaufelladers und sagt ihm, er solle sich nicht rühren und Augen und Ohren aufsperren. Der Wind lässt nach, und eine bedeutungsschwere Stille legt sich über den Wald. Die Luft scheint fast zu summen in einer Frequenz, die er nicht hören, aber spüren kann.
Dann verkünden nur drei Meter entfernt ein Donnern und ein Bellen eine Gestalt, die sich aus der Dunkelheit schält. Der Bär hat sie umkreist. Am Rand des Abgrunds, die dunkle Weite des Canyons hinter sich, steht er und betrachtet sie. Der silberne Streifen auf seinem Rücken glänzt im Mondlicht.
Der B är bückt sich ein paar Zentimeter, wie um sich auf einen Sprung vorzubereiten. Dann kommt ein Zischen, als seine Lungen anschwellen, der Bär vor dem Brüllen. Justin hebt sein Gewehr an die Schulter und zielt am Lauf entlang, zögert noch kurz am Abzug, als der Bär zwei schwankende Schritte vorwärts macht und den Rachen aufreißt. Es donnert. Justin spürt die Luft erzittern, ganz leicht, als würde man ein Gleis berühren und eine schwache Vibration spüren.
Ihn überkommt eine innere Distanz, die er manchmal auch im Klassenzimmer erlebt. Es ist, als würde er von seinem Körper wegschweben und alles von außen betrachten, von irgendeinem entlegenen Ort aus, weit weg von diesem ganzen Grauen. Er begreift, wie labil die ganze Situation ist, wie der Bär, wenn Justin sich zu schnell bewegt oder zu weit nach rechts schießt, auf sie zustürzen und ihre Schädel mit seinen Zähnen aufbrechen wird.
Dann kommt ein Schuss, der ihn in die Wirklichkeit zurückreißt – das leise, flache Krachen schockiert ihn so sehr, dass er sein Gewehr fallen lässt. Denn er hat nicht geschossen. Er hat den Stoß, so kräftig wie der Tritt eines Pferds, an seiner Schulter nicht gespürt. Der Schuss kam von neben ihm, von seinem Sohn, der sich vom Schaufellader gelöst und den Abzug seines Gewehrs gedrückt hat. Flammen scheinen aus seiner Mündung zu springen. Und in dem kurzen gelben Licht, während der Hall des Schusses sich um sie herum ausbreitet, taumelt der Bär. Die Kugel ist durch seine gefletschten Zähne gerast, über seine heraushängende Zunge und in die Schatten seines Rachens. Etwa drei Meter entfernt stürzt er zu Boden, wirft den Kopf herum und hustet, als hätte er eine Biene verschluckt.
Justin hat keine Zeit, sein Gewehr aufzuheben. Er hat keine Zeit zum Nachdenken. Er hat nur Zeit, sich seine herzhämmernde, blasenplatzende Angst einzugestehen, dann löst er sich aus seiner Trance und läuft los, um seinen Sohn abzufangen.
»Schnell«, sagt er, als er Graham am Arm packt und zerrt – wohin, wieder hinein in die Nacht? Er geht in eine Richtung, dann in eine andere, und dann ist der Schaufellader wieder vor ihnen, nur wenige Schritte entfernt. Er zieht sich am Handlauf hoch und dann seinen Sohn, und nun stehen sie beide auf der schmalen Trittstufe. Er reißt an der Glastür des Führerhauses. Sie schwingt auf. Sie klettern hinein, Justin auf den Fahrersitz, Graham auf seinen Schoß. Sie sind nur einen guten Meter vom Boden entfernt und umgeben von Glas. Er kann nur hoffen, dass der Bär sie hier nicht finden kann, wenn sie still und bewegungslos bleiben.
Doch genau in diesem Augenblick richtet der Bär sich auf alle viere auf und schaut in ihre Richtung, starrt sie direkt an. Seine Zunge hängt aus dem Maul, und Blut tropft heraus, das auf dem Boden einen ständig größer werdenden Schatten bildet. Das Glas des Führerhauses ist dünn, und Justin kann das Knurren hören, das blubbernde Geräusch darunter.
Justin greift nach dem Zündschloss und findet es leer. Er klappt die
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