Wölfe der Nacht
Junge.«
»Ich hatte letzte Nacht einen Traum.« Graham schreit jetzt beinahe. Karen verstummt und wendet sich ihm zu, versucht zu lächeln, schafft es aber nicht ganz. Aber sie wird ihm zuhören. Schließlich versucht er, ihr Abendessen mit einem neuen Thema zu retten. »Es war ein verrückter Traum.«
»Lass hören«, sagte Karen.
»Ich habe geträumt, dass wir auf die Jagd gehen.« Er nickt seinem Vater zu. »Wenn wir in den Echo Canyon fahren. Ich habe geträumt, dass ich angeschossen wurde. Irgendein Mann jagte mich durch den Wald und ich wollte ihm davonlaufen, aber er war immer da, an jeder Ecke. Irgendwann habe ich nach unten geschaut und gesehen, dass ich nackt bin.« Er wird rot, als würde er sich vorstellen, dass sie sich ihn ohne Kleidung vorstellen. »Und mein Körper war ganz mit Fell bedeckt. Nicht mit Haaren. Mit Fell.«
»Das klingt eher nach deinem Opa.« In Karens Witz schwingt eine gewisse Schärfe mit. Ihr gefällt es nicht, ganz und gar nicht, dass ihr Sohn ein Wochenende lang mit seinem Großvater unterwegs ist. Sie glaubt, dass er mehr ist als nur ein schlechter Einfluss, jemand, der an allem etwas auszusetzen hat, der sich über organisches Essen und fairen Handel und liberale Weicheier lustig macht, jemand, der über Blut und Waffen mit lächelndem Vergnügen spricht. Er ist so, und das ist schlimm genug, aber er hat auch den Hang zu dieser Art von Verrücktheit, die jemanden mit einem nägelbestückten Baseballschläger durch die Nacht streifen lässt. Sie traut ihm nicht. Und in seiner Gesellschaft traut sie auch ihrem Mann nicht, der sich so leicht einschüchtern lässt.
Niemand lacht über ihren Witz. Grahams Stimme klingt eher noch ernster, als er sagt: »Und schließlich hat er mich erwischt.« Er zeigt auf die Stelle, direkt unter seiner linken Brust. »Beim Aufwachen hat’s mir da wehgetan.« Er reibt die Stelle. »Es tut immer noch weh.«
In diesem Augenblick fällt etwas durch den Kamin und ins Feuer. Ein schreckliches Kreischen ist zu hören, als würde man einen Nagel mit Kraft über Metall ziehen. Dort drin bewegt sich etwas, etwas Schwarzes, das kurz von Flammen umringt ist – eine Eule, wie Karen erkennt, eine mächtige Ohreule, fast so groß wie ein Kleinkind.
Sie hat kaum Zeit, dieses scheinbar Unmögliche zu begreifen, als die Eule die Flügel ausbreitet und hastig mit ihnen schlägt und sich dann in die Luft erhebt. Die Klauen sind geöffnet und der Schnabel ist geöffnet und sie flattert kreischend durchs Wohnzimmer, stößt gegen Wände und Fenster, mit schwelenden Flügeln, die eine Rauchfahne durch die Luft ziehen wie den Kondensstreifen eines Jets, sie sucht einen Fluchtweg. Auf dem Kaminsims steht ein altes Hochzeitsfoto, und die Eule stößt es herunter, und es zerbricht auf dem Boden. Die Eule fliegt schnurstracks aufs Esszimmer zu. Justin stößt einen Schrei aus, der dem der Eule in nichts nachsteht, und Graham kippt mit seinem Stuhl nach hinten und Karen duckt sich und rennt zur Haustür und reißt sie auf und keine zehn Sekunden später fliegt die Eule zur Tür hinaus und verschwindet in den Abend.
Karen drückt sich die Hand ans Herz, um es zu beruhigen, denn sein Schlagen fühlt sich an wie ein Hammer in einem Tuch. »O Mann.« Sie schließt die Tür und lehnt sich dagegen.
Graham stellt zuerst sich und dann seinen Stuhl wieder auf die Beine. Er öffnet und schließt den Mund, scheint aber nicht zu wissen, was er sagen soll. Das Haus riecht, als würde es brutzeln. Ein paar Federn – klar und leuchtend, die Farbe ist aus ihnen herausgebrannt – segeln durch die Luft wie verlorene Wespenflügel.
»Was war denn das gerade?«, fragt Karen. Sie atmet schwer, als wäre sie eben vom Laufen zurückgekehrt.
Justin schüttelt den Kopf, als wisse er es nicht, doch er sagt: »Als ich ein Junge war, sind oft Stare durch den Kamin gefallen. Sie mochten den Aufwind. Seine Wärme. Manchmal wurden sie high von den Dämpfen und dann ohnmächtig.« Er steht auf, geht zum Kamin und hebt das heruntergefallene Foto wieder auf – er und Karen lächelnd im Fond einer Limousine –, das Glas aus dem Rahmen liegt jetzt in Splittern auf dem Hartholz, reflektiert das Feuer und scheint ein orangenes Leuchten zu verströmen. »Schätze, wir sollten uns eine Kaminabdeckung besorgen.«
»Warum haben wir keine? Hättest du nicht schon längst eine montieren sollen? Du weißt, dass wir keine haben, also ist dir so was doch sicher schon mal in den Sinn gekommen.« Sie kann
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