Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
Vom Netzwerk:
sich nicht bremsen. Ihr Schock hat sich um die eigene Achse gedreht wie ein schwarzer Hund und ist zu Wut geworden, die noch schlimmer wird, als er kaum auf das aufgeregte Sirren ihrer Stimme reagiert, das zwischen ihnen aufsteigt wie der Rauch der Eule. »Ernsthaft, Justin«, sagt sie, geht auf ihn zu, reißt ihm das Foto aus der Hand und stellt es grob wieder auf den Kaminsims. »Das Fensterbrett hat Trockenfäule. Die Steckdose im Bad funktioniert nicht. Unter der Traufe hängen Bienennester. Eine der Verandastufen wackelt.« Ihre Stimme bricht fast vor Erregung. Sie hasst es, wenn sie die Kontrolle über sich verliert, aber das passiert in letzter Zeit immer häufiger, ihr Temperament geht mit ihr durch.
    Manchmal kommt sie sich vor wie zwei Frauen. Die eine ist Mutter und Ehefrau. Und nach Grahams allabendlichem Bad – nachdem er sich die Zähne geputzt und den Schlafanzug angezogen hat und ins Bett geklettert ist – ruft er nach seiner Mutter, und sie geht den Gang hinunter und bleibt in der Tür zu seinem Zimmer stehen. Die Decke bis zum Kinn hochgezogen liegt er da. Sobald er sie sieht, kneift er die Augen zusammen und sein Mund zittert, weil er ein Lächeln unterdrücken muss, denn er will so tun, als würde er schlafen. Langsam geht sie zu seinem Bett – langsam, weil jeder Schritt ein Beben seiner Brust oder ein Kichern bei ihm auslösen könnte – und zieht – wieder langsam – die Decke von seinem Körper, bis er völlig bloß ist. Jetzt lachen sie beide. Dann packt sie am Fußende des Betts die Decke mit beiden Händen und schüttelt sie hoch, so dass sie einen Augenblick in der Luft schwebt und dann auf seinen Körper sinkt. Und dann ist es Zeit für den Kuss – einen für jedes Auge, die Nase, den Mund.
    Letztes Weihnachten hat sie ihm eine Digitalkamera geschenkt. Seitdem sieht man ihn selten ohne sie, das Futteral trägt er immer an den Gürtel geklemmt. Er studierte das Handbuch, als müsste er eine Prüfung darüber ablegen – markierte Seiten mit Eselsohren, unterstrich Absätze. Er machte Fotos von Sachen, die sie merkwürdig fand. Ein Knäuel feuchter Haare im Abfluss. Ein totes Eichhörnchen am Straßenrand. Sein großer Zeh, den er sich unabsichtlich am Couchtisch angestoßen hatte, so dass der Nagel sich zu einem blauen Halbmond verfärbte. Er redete ernsthaft über Blende, Megapixel, schlechte Ausleuchtung. Sie fand ihn so lustig, er war eigentlich kein Junge, sondern ein lustiger kleiner Mann. Als sie ihn fragte, was ihm am Fotografieren so gefalle, rieb er sich das Kinn, völlig ernst, ohne zu merken, wie theatralisch er wirkte. Viele seiner Bewegungen und Sprechmuster waren so, als würde er eine Schau abziehen, den Erwachsenen spielen. Schließlich sagte er, es gefalle ihm, wie die Kamera die Zeit anhalte. »Es ist wie eine Superkraft. Ich kann etwas für immer einfrieren, genau so, wie es war. Weißt du, was ich meine?«
    Sie wusste es. Hinten in ihrem Kleiderschrank hatte sie einen Schuhkarton. Darin war Krimskrams aus ihrer Vergangenheit – ihre Zahnspange, gepresste Blumen, die Bleistiftzeichnung eines Pferds, Liebesbriefe von Jugendfreunden, ein blaues Band von einem Laufwettbewerb und einige Fotos, darunter ein Schnappschuss von ihr kurz nach Abschluss der Highschool. In diesem Sommer stieg sie mit ein paar Freundinnen auf die South Sister. Das Foto zeigt sie auf dem Gipfel, sie sitzt, inmitten der Wolken, auf einem Basaltbrocken. Sie schaut nicht direkt in die Kamera, sondern hinüber zu der zerklüfteten Silhouette der Cascades. Sie lächelt nicht, aber sie sieht glücklich, zufrieden aus, und sie starrt konzentriert in die Ferne, als wolle sie dorthin gehen und müsse sich nur erst darauf vorbereiten.
    Hier war also die Frau, die ihren Sohn jeden Abend ins Bett brachte, die Plätzchen buk und sich im Garten die Knie schmutzig machte –, und dann war da noch diese andere Frau, die Frau auf dem Berg, die einzige Karen, die ihr in letzter Zeit nicht mehr aus dem Kopf ging. Jahrelang hatte sie diese Person vernachlässigt, sie in ein dunkles Loch abgeschoben, hinter Mauern versteckt, die mit Make-up und Kasserollen und Waschmittel verputzt waren.
    Das war mal ich, dachte sie, als sie auf dem Bett saß und das Foto betrachtete – oder manchmal ungläubig: Bin ich das?
    Zu ihr gehört diese Wut, zu der Frau, die auf Berge steigt, die will, dass ihr Leben etwas zählt, etwas bedeutet, und in den letzten Jahren ist sie allmählich zu der Überzeugung gelangt, dass dem nicht

Weitere Kostenlose Bücher